Die Einschulung: Ein Drama in drei Akten – 1. Akt: Der Ranzenkauf

Die folgende Geschichte stammt aus den frühen Jahren des Familienbetriebs.

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Noch drei Tage, dann steht ein großes Ereignis an, dessen Bedeutung für unsere Familie vergleichbar ist mit dem Wunder von Bern (1954), der Mondlandung (1959), dem Fall der Mauer (1989) oder der Markteinführung von Ben & Jerry‘s Strawberry-Cheesecake-Eiscreme (2005). Die Tochter wird eingeschult!

Schulanfang

Vor die Einschulung hat der Schulgott aber einige Hürden gestellt, die es zu überwinden gilt, bevor wir die Tochter in den Ernst des Lebens schicken können. Zunächst müssen wir einen geeigneten Schulranzen aussuchen. Dies ist gar nicht so einfach, wie es sich anhört.

Als ich damals eingeschult wurde –in einem fernen Land vor unserer Zeit –, gab es, wenn ich mich recht erinnere, genau zwei Schulranzenmarken: Scout und McNeill. Von diesen gab es jeweils ein Modell in zwei unterschiedlichen Farben. Man hatte also genau vier Wahlmöglichkeiten und konnte in sehr überschaubarer Zeit eine Entscheidung treffen.

Heute ist das anders. Mittlerweile gibt es ungefähr vier Dutzend Firmen, die Schulmaterialienaufbewahrungsbehältnisse produzieren: Ranzen, Rucksäcke, Rollkoffer, Umhängetaschen oder Aktenkoffer, wie sie früher immer die Spießer von der Schüler-Union hatten. Und jede der Firmen bietet seine Modelle in einer unüberschaubaren Vielfalt an Farben, Formen, Stoffen und Motiven an.

Wie es sich für moderne, verantwortungsbewusste Eltern gehört, haben wir uns selbstverständlich bereits Monate vor der Einschulung mit dem Projekt ‚Schulranzen‘ beschäftigt. Als Akademiker-Paar wollten wir keinen irrationalen Spontankauf tätigen, sondern eine informierte Entscheidung treffen und den optimalen Ranzen auswählen, der Haltungsschäden bei unserem Kind vermeidet, der aus robusten, aber umweltfreundlichen Materialien besteht und für dessen Preis wir nicht das nicht vorhandene Familiensilber veräußern müssen.

Die Tochter betonte außerdem, sie wolle einen voll coolen Ranzen und nicht irgendeinen total doofen, für den sie alle Klassenkameraden hänseln werden, so dass sie nie eine Freundin findet und für immer und ewig allein bleiben müsse. Da uns das Wohlergehen und das Sozialleben unserer Tochter sehr am Herzen liegt, versprachen wir ihr, das Kriterium der Coolness in unserem Auswahlprozess zu berücksichtigen.

Eine erste Google-Suche zu ‚Schulranzen Test‘ ergab mehr als 250.000 Treffer. Somit sollte es keinen Mangel an objektiven Fakten und unbestechlichen Informationen zu dem Thema geben. Im Gegenteil. Man müsste eigentlich seinen Jahresurlaub nehmen, um dies alles lesen zu können.

Denn im Frühjahr geben Stiftung Wartentest, Ökotest, die Verbraucherzentralen und zahlreiche andere Ratgeberorganisationen und –portale alle ihre Empfehlungen zum Ranzenkauf ab. Und natürlich widersprechen sich diese Berichte und Artikel alle.

Nachdem wir uns ein ganzes Wochenende durch die Ratgeberartikel gekämpft hatten, schlug ich der Freundin vor, die Tochter circa drei bis vier Jahre zurückstellen zu lassen. Die Zeit könnten wir dann nutzen, um ein ingenieurswissenschaftliches Studium zu absolvieren, uns im physiotherapeutischen Bereich fortzubilden und einige Seminare im Fachbereich Chemie zu belegen. So könnten wir die Konstruktion der Ranzen untersuchen, ihre Auswirkungen auf den kindlichen Gelenkapparat abschätzen und mögliche gesundheitsgefährdende Weichmacher und andere Inhaltsstoffe analysieren. Darauf aufbauend wäre es uns dann möglich, den bestmöglichen Ranzen für unsere Erstgeborene auszuwählen. Der Blick der Freundin gab mir zu verstehen, dass solche an Ernsthaftigkeit mangelnde Vorschläge für die Entscheidungsfindung nicht hilfreich seien.

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Also beschlossen wir, die Informationsauswertung und die Entscheidung erst einmal zu vertagen. Es waren ja noch ein paar Monate bis zur Einschulung der Tochter. Dann kam Ostern, die Freundin bewarb sich um ein Promotionsstudium und bekam es bewilligt, ich musste an der Arbeit ein aufwändiges Projekt koordinieren, wir renovierten unsere Wohnung, danach entschieden wir uns, umzuziehen, suchten eine neue Wohnung, fanden sie, fuhren in den Urlaub und zogen tatsächlich um. Und jetzt ist es plötzlich Mitte August und wir haben immer noch keinen Ranzen. Da das gute Kind in 72 Stunden eingeschult werden soll, rückte der Ranzenkauf auf unserer Prioritätenliste ganz nach oben. Schließlich soll das Töchterlein bei den Einschulungsfeierlichkeiten nicht mit einer Aldi-Tüte in der Aula stehen, während ihre neuen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden voller Stolz ihre neuen Tornister präsentieren.

Voller Tatendrang machen wir uns nachmittags mit der Tochter und dem Sohn auf den Weg in ein großes Kaufhaus, um dort einen Schulranzen zu erwerben. Die Freundin trägt mir vorher noch auf, den Akten-Ordner mit den 300 ausgedruckten Seiten Testberichten mitzunehmen. Schließlich wollen wir für alle Eventualitäten vorbereitet sein.

Im Kaufhaus angekommen, stellen wir fest, dass kurz vor Schuljahresanfang die Auswahl an Ranzen selbst mit sehr viel gutem Willen nicht als unüberschaubar groß zu bezeichnen ist. Und es sind auch nicht gerade die schönsten Modelle, die noch in den Regalen stehen.

Einen Verkäufer euphorisiert die Aussicht, noch etwas von seiner Ranzen-Ramschware loszuwerden und bietet aufdringlich wie ein Gebrauchtwarenhändler seine Beratung an. Sofort beginnt er schamlos übertreibend, die Vorzüge seiner bisher sicherlich nicht grundlos verschmähten Restposten anzupreisen. Nicht mit mir, Freundchen, denke ich und konsultiere meinen Ordner, um seine überzogenen Marketingsprüche mit den Realitäten meiner Testberichte abzugleichen.

Bombardiere ihn mit Fragen zu Ergonomie, zu DIN-Normen, zu polyzytelisch aromatischen Kohlenwasserstoffen, zu Dibutylzinn und vielen anderen nur schwer aussprechbaren Stoffen. Seine ausweichenden Antworten zeugen von erschreckender Inkompetenz und Unwissenheit. Auch meine Frage, ob es Tests mit Elefanten gegeben hätte, die auf den Ranzen herumtrampeln, um deren Robustheit zu testen, kann er nicht zufriedenstellend beantworten.

Nach knapp drei Stunden zuckt das linke Auge des Verkäufers nervös. In nur noch mäßig höflichem Ton weist er uns darauf hin, dass Kaufhaus schließe in wenigen Minuten. Danach will er wissen, ob wir überhaupt die Absicht hätten, einen Ranzen zu erwerben.

Möchte gerade noch ein wenig Bedenkzeit erbitten, als uns die Tochter die Entscheidung aus der Hand nimmt. Sie schleppt ein Modell von zweifelhafter Schönheit an. Es ist mit Elfen, Feen und Einhörnern übersät und farblich ganz in Rosa- und zarten Pastelltönen gehalten. Macht ein wenig den Eindruck, als seien die abgebildeten Fabelwesen auf einem gemeinschaftlichen orgiastischen LSD-Trip. Womöglich hat der Grafiker bei der Entwicklung des Designs ein wenig zu viel am Klebstoff geschnüffelt.

Schlage daher der Tochter vor, sie solle sich doch noch ein wenig umschauen. Sie stampft wütend mit dem Fuß auf und verkündet zornig, sie will genau diesen Ranzen und keinen anderen oder sie gehe gar nicht in die doofe Schule. Überlege, bei welcher Behörde ich wohl einen Antrag auf ‚Home Schooling‘ stellen kann. Da trägt die Tochter aber schon den Ranzen mit dem Feenland im Drogenrausch zur Kasse.

Selbstverständlich bewegt sich das Modell trotz der fragwürdigen Ästhetik im oberen Preissegment. Gebe der Freundin zu verstehen, dass ich es für unangebracht halte, eine halbe Monatsmiete für einen Ranzen auszugeben. Sie schaut mich an, als hätte ich gerade vorgeschlagen, die Tochter in alten Kartoffelsäcken gehüllt zur Einschulung zu schicken, und maßregelt mich, die Tochter werde schließlich nur einmal in ihrem Leben eingeschult und da könne ich wohl wenigsten dieses eine Mal meinen geradezu krankhaften und manchmal nur schwer erträglich Geiz im Zaum halten. Mit diesen Worten greift sie nach einem Federmäppchen, einem Schlampermäppchen und einem Sportbeutel im korrespondierenden Feen-Design.

Gebe mich geschlagen und überlege, wie lange man sich wohl von Toastbrot ohne alles ernähren kann, bevor erste Mangelerscheinungen wie Haarausfall und Parodontose auftreten. Da kommt der Sohn und zeigt mir mit leuchtenden Augen einen Ranzen mit Monster-, Drachen- und Kriegermotiven. Euphorisch erklärt er, den wolle er haben. Entgegne geduldig wie ein Zen-Mönch, der eine Flasche Baldrian getrunken hat, er werde erst in drei Jahren eingeschult und brauche noch keinen Ranzen. Der Sohn schaut mich verständnislos an. Für ihn ist das keine nachvollziehbare Begründung, ihm nicht den Ranzen zu kaufen und er hält mich für einen phantasielosen, engstirnigen Kleingeist. Der Sohn sagt, Schule sei voll kacka. Nicht mehr ganz so entspannt erkläre ich ihm, das sei kein schönes Wort und ich möchte nicht, dass er das sagt. Zornig erwidert der Sohn, dann sei Schule halt voll Häufchen. Dann wirft er sich brüllend auf den Boden. Würde das jetzt auch gerne tun.

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Als wir das Kaufhaus verlassen, besteht die Tochter darauf, den Ranzen selbst zu tragen, schließlich ginge sie ja fast schon zur Schule. Nach 100 Metern ist ihr die Tragerei zu anstrengend und mit den Worten, noch sei sie aber kein Schulkind, überreicht sie mir den Ranzen. Versuche den Heimweg möglichst würdevoll zu bestreiten. Also, so würdevoll, wie es einem bärtigen Mitdreißiger möglich ist, der in der Rush-Hour in der Berliner U-Bahn einen rosafarbenen Feen-Ranzen auf dem Rücken trägt.


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