Nach den Anschlägen in Frankreich fordert man von uns, die „westlichen Werte“ gegen die „Barbarei“ zu verteidigen. Eine Verweigerung -
Arm in Arm, Schulter an Schulter laufen sie in einer Reihe, das Foto geht um die Welt: Angela Merkel neben dem französischen Staatschef Francoise Hollande, Palästinenserpräsident Mahmud Abbas wenige Schritte von Israels Premier Benjamin Netanjahu entfernt, auch der ukrainische Präsident Petro Poroschenko fehlt nicht. Sogar der türkische Premierminister Ahmet Davutoğlu ist gekommen. Etwa 50 Staats- und Regierungschefs sind es, die sich während der Demonstration in Gedenken an die Opfer des Terroranschlages auf die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo und auf einen jüdischen Supermarkt in Paris eingefunden haben. Mindestens 3,7 Millionen Menschen sollen es insgesamt sein, die am Sonntag in Frankreich auf der Straße waren.
Die Trauerkampagne nach den Terroranschlägen, bei denen insgesamt 16 Menschen ermordet wurden und drei Angreifer umkamen, hat ein Ausmaß erreicht, das schwer zu überschauen ist. Fußballmanschaften laufen in #jesuischarlie-Trikots auf, Millionen bekunden ihre Solidarität auf der Straße, in den sozialen Netzwerken gibt es kaum ein anderes Thema. Die Anzahl der Artikel und Essays ist schon jetzt unüberschaubar, kaum ein Politiker von Rang hat sich nehmen lassen, das Geschehene zu interpretieren.
Alle eins
Diskutiert wird dabei zumeist entlang einer simplen wie einprägsamen These: Wir alle, unabhängig von Religion, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Klasse oder sonstigen soziologischen Kategorien müssen uns nun als „Zivilisierte“ gegen die „Barbarei“ zur Wehr setzen. Feind wie Freund haben klare Züge. Freund ist, wer die „westlichen Werte“ achtet, Freiheit und Demokratie. Feind ist der islamistische Dschihadist, der Fanatisierte, der loszieht, um Andersgläubige abzuschlachten. Dieser Narrativ, so sehr auch darauf geachtet wird, dass Widerspruch ausbleibt, hat seine Probleme und ist in hohem Maße schwachsinnig.
Das sollte einem eigentlich schon bei einem kurzen Blick auf jene Gestalten auffallen, die uns nun dazu aufrufen, mit ihnen „einig“ zu sein. Sollen wir „einig“ sein mit Ahmet Davutoglu, der einer Regierung vorsteht, die die Islamisierung der Türkei seit Jahren vorantreibt und syrische Islamisten aufgerüstet und unterstützt hat? Mit Petro Poroschenko, der einen schmutzigen Krieg unter Beteiligung neonazistischer Milizen in der Ostukraine führt? Mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der uns im Bild-Interview aufruft, „unsere Werte der freien und offenen Gesellschaft (zu) verteidigen“?
Diese abstrakte Gegenüberstellung von „Barbarei“ und „Zivilisation“ ist nichts als ein ideologisches Konstrukt – und zwar nicht einmal ein besonders ausgefeiltes. „Barbarisch“ ist immer der Gegner, der Andere. Der „freie Westen“ und sein Gesellschaftssystem, die kapitalistische Produktionsweise und ihr Überbau, die „liberale Demokratie“, werden dagegen als das Ideal skizziert, in dem das Menschengeschlecht glücklich und harmonisch zusammenlebt, bedroht nur von dem als barbarisch markierten „Außen“.
Dass diese „Zivilisation“ selbst ein ausreichendes Maß an „Barbarei“ in sich trägt, wird in der allgemeinen Mobilmachung konsequent verschwiegen und verdrängt. Die unter den Trümmern einer Textilfabrik in Bangladesch begrabende Näherin, der von dem deutschen Brigadegeneral Georg Klein verbrannte afghanische Jugendliche, der an der EU-Außengrenze ersoffene Flüchtling aus Libyen – Sie alle haben ihre Qualen exakt jener „Zivilisation“ zu verdanken, für die man uns nun nötigt, die Lanze zu brechen.
Massenmediale Zurichtung
Das weltweite Spektakel nach den Morden von Paris weist auch auf einen weiteren Aspekt unserer „Zivilisation“ hin: Wer außerhalb von Europa und den USA Opfer von Terror, Krieg, Mord und Vertreibung wird, der kann nicht darauf zählen, zu einem von Milliarden retweeteten Hashtag zu werden. Wer in jenen dunklen Gegenden verreckt, die wir nicht zu den erleuchteten Bastionen unserer „Zivilisation“ rechnen, bleibt anonym, sein Ableben schafft es zumeist nicht über unsere Aufmerksamkeitsschwelle.
Andere islamistische Terroristen, die der Boko Haram in Nigeria, haben in den Tagen bevor die Vermummten in Paris Journalisten, Polizisten und Juden meuchelten, 2000 Menschen ermordet. Überwiegend Kinder, Frauen, alte Menschen. Das wird auch in den Leitmedien nicht verschwiegen, aber die Texte dazu sind weniger, einen Aufschrei gibt es nicht. Keine Millionen gehen auf die Straße, keine Fußballmanschaften laufen mit Trikots auf, kaum ein Politiker gibt seinen Senf dazu. Es ist „normal“, dort zu sterben, bei „uns“ ist es nicht „normal“.
Die Einheitsfront der Politstars und Leitmedien-Chefredakteure will ersteres nicht ändern. Sie tritt dazu an, letzteres zu bewahren. Der Terror darf nicht „zu uns kommen“. Er soll da bleiben, wo er hingehört, außerhalb der Fortress Europe und der Vereinigten Staaten von Amerika, in jenem Gebiet der Habenichtse und Entrechteten, das man irgendwann einmal begonnen hat, Trikont zu nennen.
Was gefordert wird und was nicht gefordert wird
Genau auf diesen Zweck verweisen die Forderungen, die nun aufkommen. Und die Forderungen, die nicht aufkommen. Man fordert nicht, das Terrorunterstützerland Türkei zu zwingen, seinen internen und externen Islamisierungskurs aufzugeben und aufzuhören, säkulare und linke Aktivisten zu drangsalieren. Man fordert auch keinen Stopp von Waffenexporten, noch nicht einmal einen Stopp von Waffenexporten an die Wahabiten-Diktatur Saudi-Arabien, die mit der Verbreitung exakt jener Ideologie befasst ist, die die dschihadistischen Terroristen antreibt. Man überlegt nicht, was ungleiche ökonomische Entwicklung und imperialistischer Krieg beigetragen haben zum Entstehen des dschihadistischen Terrorismus. Ja, man stellt nicht einmal die naheliegende Überlegung an, dass es vielleicht sinnvoll wäre, Bewegungen wie die kurdische PKK, die schon länger gegen IS und Konsorten kämpfen, von den diversen Terrorlisten zu streichen.
Man überlegt in eine andere Richtung: Man denkt nach, wie man das Geschehene bestmöglich für die eigenen Zwecke instrumentalisieren kann. Dieses Geschäft, die Verwertung der Toten im politischen Diskurs, betreiben nicht nur die diversen Rassisten- und Faschistenbewegungen von Front National bis PEGIDA, sondern noch gekonnter unsere „zivilisierte“ Mitte. Die Vorratsdatenspeicherung kommt wieder auf den Tisch, die Stimmen, die ein mehr an Überwachung für die Lösung halten werden lauter. Einwanderung sei das Problem, weiß nicht nur der ungarische Regierungschef Viktor Orban. Und Springer startet eine Kampagne zur Delegitimierung der Kritik an der Überwachung durch den US-Geheimdienst NSA.
Aber, so werden einige sagen, relativiert das alles nicht die grausamen Taten der Mörder von Paris? Nein. Die Verweigerung, sich in die Einheitsfront der vermeintlich Zivilisierten einzureihen, verharmlost nicht den Terror von Paris, sondern beendet die Verharmlosung des Terrors der „Zivilisierten“.
Das Nein, auf einer Seite mit Angela Merkel, Jens Stoltenberg, Matthias Döpfner, Benjamin Netanjahu, Ahmet Davutoglu und all den anderen diesen Schlages zu stehen, ist keine Absage an den Kampf gegen antisemitische Gewalttaten und islamistischen Terror, sondern die Einsicht, die einen wirklichen Kampf dagegen erst ermöglicht.
Quelle: http://www.hintergrund.de/201501123376/globales/terrorismus/die-einheitsfront-der-zivilisierten.html