Geschichte ist auch das unablässige Hinterfragen von erreichten, allgemein akzeptierten, vermeintlich absolut gültigen Erkenntnissen über die Entwicklung der Welt. Mal mehr, mal weniger nachdrücklich wird dabei oft der eigene Standpunkt nunmehr in den Rang einer unumstößlichen Wahrheit erhoben. Nicht selten führt dies von konsenssuchender Debatte weg und hin zu aggressiver Verkündigung, wie sie für Sekten typisch ist. Verbinden sich dann fanatische Ideologen mit der Macht, ist der Boden für blutige Diktaturen bereitet. Gemeinsam ist solchen Wahrheitsaposteln das Unverständnis, dass ihre Weisheiten von der Mehrheit der Menschen nicht angenommen werden. Das gilt auch heute für viele konträre Auffassungen zur Weltanschauung und zur gesellschaftlichen Entwicklung. Auch „seriöse“ Abweichler bei den Atheisten, Ökologen, Sozialisten, etc. tun sich damit oft schwer.
Glücklicherweise wird Geschichte jedoch nicht von der bewegungslosen Mitte gemacht. Sonst wären wir für das Feuer im Herd noch immer auf den Waldbrand angewiesen und der Blitz wäre das Schwert des Chefgottes. Doch der Fortschritt vollzieht sich langsam, manchmal reversiv und meist zunächst kaum erkennbar. Das nervt!
Gerade wenn alte Auffassungen die Kraft zur Gestaltung verloren haben, kommt Ungeduld bei den Um-Denkern auf. In solchen Situationen scheint es ihnen geradezu mysteriös und unentschuldbar, dass, obwohl deren Brüchigkeit unübersehbar wird, Mehrheiten an den alten Auffassungen kleben bleiben und so die Bestandserhaltung sozialer Anachronismen garantieren – oft bis zur Katastrophe.
Außer Scharfsinn gehört intellektueller Mut dazu, die Frage nach dem Warum des Verharrens im konservativen Mainstream-Denken, der verbreiteten geistigen Unbeweglichkeit zu stellen. Nicht zuletzt deshalb, weil dann konsequenterweise auch die unbequeme Frage nach Fehlern der eigenen Position, die politisch delikaten Fragen nach den systemischen Gründen der geistigen Öde und nach Lösungswegen aufzuwerfen sind.
In seiner Streitschrift Keine Macht den Doofen bringt Schmidt-Salomon solchen Mut auf. Er identifiziert die weltweit grassierende Dummheit als in erster Instanz verantwortlich für die heute existentiell gefährlichen Fortschrittsblockaden. Damit erlaubt er sich einen Tabubruch. Denn unter Aufklärern und Aufgeklärten, unter Humanisten und Linken jeder Couleur gilt weithin, wer so denkt und das noch rausposaunt, der befindet sich ganz in der Nähe elitären, anti-demokratischen oder auch biologisch-rassistischen Gedankenguts. Das Problem einer flächendeckenden, also gesellschaftlich dimensionierten Dummheit nun offen zu thematisieren, aus humanistischer Sicht und ohne in Rechtslastigkeit zu verfallen, das ist die große Leistung von Michael Schmidt-Salomon.