Einer jener Pioniere des Grauens war Rudolf Franz Ferdinand Höß, der seit Mai 1940 die Funktion des Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz ausübte und damit für die Durchführung des befohlenen Mordes an 2,5 Millionen Menschen verantwortlich war. 1947 wurde Rudolf Höß in den Prozessen gegen Kriegsverbrecher in Nürnberg zum Tode verurteilt und hingerichtet. Aus den psychologischen Gutachten zu seiner Person und seinen Aussagen vor Gericht und in Verhören geht hervor, dass Rudolf Höß kein Mensch war, der einen äußerlich erkennbaren Hang zur Brutalität besessen hat. Er war in der Erfüllung seiner Aufgaben gewissenhaft und getrieben von Ordnungssinn und Pflichtbewusstsein. Für die Gewissenhaftigkeit, mit der er die ihm aufgetragenen Befehle ausgeführt hat, empfand dieser Mensch keine Reue und kein Schuldgefühl, und die Frage nach Sinn und Inhalt der Befehle, die er empfangen hat, betrachtete er als unrealistisch für einen Offizier der SS.
Der französische Schriftsteller Robert Merle war von diesem Psychogramm, das er über Rudolf Höß vom amerikanischen Gerichtspsychologen Gustav M. Gilbert gelesen hatte, dermaßen schockiert, ergriffen und vielleicht auch fasziniert, dass er sich 1950 entschloss, das Leben dieses Lagerkommandanten literarisch zu verarbeiten in einem Roman, gewidmet „den Opfern jener, deren Beruf der Tod ist.“ Teils literarisch erfunden, teils historisch recherchiert erzählt Robert Merle in der Form einer fiktiven Autobiografie das Leben Rudolf Langs alias Rudolf Höß und liefert damit ein einmaliges, kenntnisreiches und geniales Psychogramm der Unmenschlichkeit.
„Alles, was Rudolf Lang tat,“ charakterisierte Robert Merle seine Romanfigur, „tat er nicht aus Grausamkeit, sondern im Namen des kategorischen Imperativs, aus Treue zum Führer, aus Respekt vor dem Staat. Mit einem Wort, als ein Mann der Pflicht: und gerade darin ist er ein Ungeheuer.“ Diese sprichwörtliche „Niebelungenträue“ war es, in der Rudolf Lang zahlreichen anderen ausführenden Kadern des Nationalsozialismus ähnelte. Sie ist Ausdruck der tief verwurzelten persönlichen und geistigen Unselbstständigkeit dieses Menschen, der als ängstliches Kind niemals den Mut und die Kraft aufbringt, sich von der väterlichen zu tiefst autoritären puritanisch-protestantischen Erziehung zu lösen. Er nutzt zwar die erste Gelegenheit zur Flucht vor der elterlichen Bevormundung, indem er sich 1916 im Ersten Weltkrieg einem Dragonerregiment für den Kriegsdienst in der Türkei anschließt. Diese Rebellion gegen die häusliche Autorität verschafft ihm aber nicht die notwendige Selbständigkeit im Geiste. Im Gegenteil, sie lehrt ihn, wie einfach es ist, Befehle auszuführen und sich der Verantwortung für die eigenen Taten zu entziehen. Umso mehr leidet das orientierungslose Kind in dem jungen Offizier unter den Ereignissen und Folgen der deutschen Novemberrevolution. Denn es ist keine bewusste Loyalität mit der Monarchie, kein politisches Bewusstsein, dass ihn in den Anfangsjahren der Weimarer Republik zu einem Feind der Revolution werden lässt, sondern die Erfahrung des persönlichen Scheiterns in einer Situation, die ihn zwingt, selbständige Entscheidungen zu treffen und selbstbestimmt zu handeln. Doch als die Verzweiflung über die Orientierungslosigkeit so groß ist, dass er bereit ist, seinem Leben ein Ende zu setzten, trifft ihn der Ruf jenes Mannes, der sich als neuer Führer des deutschen Volkes betrachtet: „Wer sich der Verzweiflung hingibt, desertiert angesichts des Feindes. Die Pflicht jedes deutschen Mannes ist, für das deutsche Volk und das deutsche Blut zu kämpfen und zu sterben, wo immer er steht.“ Und Rudolf Lang folgt diesem Rufer, weil er ihm gibt, was Rudolf Lang am meisten im Leben benötigt: Führung, Pflicht, Befehle und den Erlass jeglicher Verantwortung für das eigene Handeln.
Und mit Rudolf Lang folgte ein ganzes Bürgertum, das bereit war, diesem Rufer die politische Macht, die Befehlsgewalt und jegliche Verantwortung zu übergeben in dem Augenblick, in dem es für den Erhalt der von Krisen zerrütteten Republik einer historischen Tat bedurft hätte. Der Faschismus ist keine deutsche Erfindung. Entstanden ist die faschistische Bewegung in Italien, Nachahmung fand sie außer in Deutschland in Spanien, Rumänien und anderen Staaten. Aber die unbedingte Brutalität seiner Ausgestaltung, die Steigerung der Unmenschlichkeit bis an die Grenzen des technisch möglichen und die Einbeziehung der ganzen Welt in den blutigsten aller Kriege der Menschheit entsprangen deutschem Geist, der geistigen Unreife oder der politischen Infantilität des deutschen Bürgertums.
Dieses Bürgertum glich seine ganze Geschichte über jenem kindlichen Erwachsenen, der sich niemals der elterlichen Autorität emanzipieren konnte; es glich jenem Rudolf Lang, der zwar in jugendlichem Überschwang rebellierte, um anschließend nur noch tiefer in die Obhut der Autorität zu fliehen. Als das deutsche Bürgertum mit der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden ist, konnte von einem deutschen Staat noch lange nicht die Rede sein. Seit den Tagen des Dreißigjährigen Krieges 1618-48 war das Deutsche Reich in seiner ökonomischen Entwicklung um ca. 100 zurückgeworfen und die kaiserliche Zentralgewalt geschwächt. Zur Herausbildung eines deutschen Zentralstaates nach dem Vorbild des französischen Hofes Ludwigs XIV. oder des britischen Königs Heinrich VIII. war es in den deutschen Fürstenstaaten niemals gekommen. So entwickelte sich das deutsche Bürgertum im Schoße territorialer Kleinstaaterei und fürstlichen Egoismus' heraus. Die absolutistischen Schranken, in die es gefangen war, und die staatliche Beengtheit des Handels und Warenaustausches in den deutschen Staaten bedingten die wirtschaftliche Schwäche des deutschen Bürgertums, die wiederum Ursache seiner politischen Schwäche war. Der Begriff der deutschen Kulturnation ist wohl im Grunde nicht mehr als eine Scheinphrase, die verschleiern soll, dass das deutsche Bürgertum die für die Herausbildung des Kapitalismus so wichtige staatliche Einheit aus eigener Kraft in Deutschland niemals herstellen konnte. Auf dem Gebiet der Philosophie, der Kultur und der Kunst entwickelte das deutsche Bürgertum sein Klassenbewusstsein auf ausschließlich ideologische Weise; für historische Taten fehlten ihm stets Kraft und Wille. Hegels Philosophie war ihrem Wesen nach eine revolutionäre Philosophie, ihrer äußeren Erscheinung nach diente sie ihm zur Legitimierung des preußischen absolutistischen Staates; Goethe, der Dichterfürst der deutschen Nation, war beteiligt an der Kanonade von Valmy nicht als Revolutionär, sondern als Mitglied der europäischen Koalitionstruppen gegen die französische Revolution. So war sich das deutsche Bürgertum seiner historischen Aufgabe, den Absolutismus in Deutschland zu stürzen und die nationale Einheit Deutschlands herzustellen, niemals in vollem Maße bewusst und blieb unfähig, ihr gerecht zu werden. In den Napoleonischen Kriegen kämpften deutsche Kleinstaaten gegen deutsche Kleinstaaten und die militärischen Erfolge Napoleons waren zu einem großen Teil Ergebnis der deutschen Rückständigkeit. Die Hoffnung auf Reformen und nationale Einheit, die das Bürgertum in der kurzen historischen Phase der Europäischen Befreiungskriege zum gemeinsamen Kampf mit den europäischen Fürsten veranlasst hatte, blieb unerfüllt und wurde zerschlagen von der harten Hand des Absolutismus in Gestalt des Fürsten von Metternich auf dem Wiener Kongress im Jahre 1815. Restauration und Reaktion der Jahre 1815-1840 waren letzten Endes der verdiente Lohn für den genügsamen Glauben des deutschen Bürgertums, die staatliche Einheit und die politische Macht vom Absolutismus auf dem Tablett serviert zu bekommen. Die Zeit, in der das deutsche Bürgertum eine progressive Rolle in der deutschen Geschichte gespielt hatte, war mit dem Wiener Kongress beinahe beendet. Hatten ihm bis 1815 die wirtschaftliche und politische Macht zum Kampf mit dem Absolutismus gefehlt, gesellte sich hierzu bald die Angst vor der eigenen Courage und den abzusehenden Folgen einer politischen Revolution als Gründe für die Trägheit des deutschen Bürgertums. Die französische Revolution und die Julirevolution des Jahres 1830 hatten dem deutschen Spießbürger vor Augen geführt, dass eine Revolution nur möglich ist durch Bewaffnung des Volkes und damit durch die Bewaffnung jener gesellschaftlichen Kräfte, die neben der politischen auch die wirtschaftliche Gleichberechtigung, neben dem Sturz der Krone auch den Sturz des Geldbeutels forderten. Die Folge dieser nun wirklich infantilen Angst vor der eigenen Courage und Verantwortung war das Scheitern der Revolution der Jahre 1848/49, in der sich das Parlament in der Paulskirche geradezu selbst erniedrigte, indem es dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone anbot, der diese Offerte brüsk zurückwies, weil er es für unwürdig hielt, von einem Parlament die Krone zu empfangen. In dieser historischen Situation glich das deutsch Bürgertum einem ängstlichen, erwachsenen Kleinkind, das sich spontan erhebt und rebelliert, ohne selbst genau zu wissen, warum und mit welchem Ziel. Hatte das englische Bürgertum 1649 Karl I. vor dem englischen Volk für die Folgen zweier blutiger Bürgerkriege verantwortlich gemacht und gerichtet; hatte das französische Bürgertum 1793 in der Stunde der größten Schwäche der Revolution das Schwert erhoben und mit einem entschlossenen Hieb alle absolutistischen Kräfte einschließlich Ludwigs XVI. von der historischen Bühne gefegt; das deutsche Bürgertum zuckte erschrocken zusammen vor den Folgen einer scheinbar allzu unliebsamen Rebellion und zog sich eilends zurück in den behütenden Schoß des preußischen Absolutismus, nachdem dieser sich zu einigen leeren Versprechen hatte erweichen lassen. Und der preußische Absolutismus war es schließlich auch, der dem deutschen Bürgertum 1871 auf dem Amboss seiner Herrschaft mit Blut und Eisen schmiedete, was zu erkämpfen seine historische Aufgabe war: Die nationale Einheit Deutschlands. Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck mag unbewusst gespürt haben, dass der preußische Absolutismus die vom Bürgertum getragene Industrialisierung brauchte, um seine Macht zu erhalten und auszubauen, und er wusste, dass das Bürgertum für die Entfaltung der Industrie die nationale Einheit benötigt. So war es nicht die historische Tat eines entschlossenen Bürgertums, sondern die Knute des Absolutismus, die die deutsche Einheit, die deutsche Industrialisierung und mit ihr die Blüte des deutschen Kapitalismus hervorgebracht hat. Und diese Knute des preußischen Absolutismus gebar einen Kapitalismus der innenpolitisch höriger und unselbstständiger war als jeder andere europäische Kapitalismus, der zugleich aber außenpolitisch um so vorlauter und frecher und um so aggressiver auftrat, wenn es galt, den Lebensnerv unschuldiger Völker für die eigene Bereicherung rücksichtslos auszulöschen. Was dem deutschen Bürgertum 1849 in der Frankfurter Paulskirche zur Durchsetzung seiner eigenen Interessen an Entschlossenheit fehlte, holte es 1900 und 1904 willig nach, als es für deutsche Kapitalinteressen und unter dem Banner deutscher Weltherrschaftsansprüche galt, die Aufstände der Boxer in China und des Stammes der Herero in Deutsch-Südwestafrika blutig niederzuschlagen. Schließlich konnte man sich bei diesen Gelegenheiten ungeschoren dafür hergeben, unschuldige Menschen grausam niederzumetzeln, ohne selbst die Verantwortung übernehmen zu müssen für die Taten, die eine kaiserliche Autorität angeordnet hatte.
Und so war jenes infantile deutsche Bürgertum entstanden, das kein einziges Mal in der Geschichte fähig gewesen ist zu einer historischen Tat geleitet von einem selbstständigen Geist und eigener Verantwortung; das sich freiwillig einer absolutistischen Autorität unterwarf, die das Bürgertum andere Nationen längst entschlossen von sich gestoßen hatte; das sich willig in die beiden verheerendsten Kriege des 20. Jahrhunderts hat führen lassen mit der Aussicht auf satte Gewinne und gleichzeitiger Entbindung von jeder persönlichen Verantwortung; jenes Bürgertum, das Charaktere wie Rudolf Lang alias Rudolf Höß hervorgebrachte: Männer der Pflicht, die gerade darin die größten Ungeheuer waren.
Auf diese Weise ist Robert Merles Roman mehr als ein durchdachtes Psychogramm der Unmenschlichkeit. Es ist auch ein Psychogramm deutscher Geschichte, das von Robert Merle auf geniale Weise beobachtet und gestaltet wurde. Diese Beobachtungsgabe des Verfassers macht „Der Tod ist mein Beruf“ trotz der Grausamkeit seines Gegenstandes zu einem lesenswerten Buch, das bis in die Gegenwart hinein manchen erhellenden Gedanken zur deutschen Geschichte und Gegenwart liefern kann.
von Roman Stelzig