Die deutsche Desinformationsgesellschaft

Ein Gastbeitrag von Moritz Steglitz
Es geht mir auf den Keks. In all diesen großen Streitfragen, von Stuttgart 21 über die Kernenergie bis hin zur Konfliktlösung in Israel oder der hiesigen Integrationsdebatte: Über alles reden die Leute, aber die wenigsten von ihnen beschäftigen sich wirklich damit. Die Menschen bilden sich ihre Meinung nicht, in dem sie viele verschiedene Medien zu Rate ziehen, sondern sie beschränken sich in den meisten Fällen auf ein Medium, oder sogar auf gar keines. Hintergrundwissen ist nicht gefragt, die Beschäftigung mit den Themen ist tabu.

Verbale Arschtritte als neue Diskussionsform

Das ist einer der Gründe, aus denen ich mich in vielen Fällen weigere, von einer Diskussion zu sprechen. Stures aufeinander Herumhacken mit vorgefertigter, versteifter Meinung ist keine Diskussion. Dabei findet ein großer Teil dieser Nicht-Diskussionen online statt, an Orten, an denen man sie am wenigsten erwarten sollte: Unter Zeitungsartikeln. Nun ist es eine Sache, wenn sich die Kommentatoren bei BILD.de verbal gegenseitig auf die Fresse geben. Wenn aber unter einem Artikel von ZEIT online nur eine desinformierte Gedankenkeilerei stattfindet, in der sich die Nicht-Diskutierenden zuerst gegenseitig beleidigen und dann später dazu übergehen, den Ersteller des Beitrags mit verbalen Entgleisungen zu bewerfen, dann ist das in meinen Augen ein Zeichen dafür, dass auch die, die sich als “besser informiert” bzw. “offen gegenüber allem” ausgeben, in vielen Fällen genau das nicht sind.
Das Schlimmste an solchen Auseinandersetzungen ist für mich dann, dass die Teilnehmer all ihre Aussagen als Tatsachen darstellen, die ihnen zufolge 100%ig der einzig wahren Wahrheit entsprechen. Frei nach dem Motto “Der Papst ist unfehlbar, ich bin es erst recht!” macht man den jeweils anderen für seine unverständlichen Ansichten zur Sau und erklärt ihm, dass er mit seinem Schrumpfhirn gar nicht erst weiterleben müsse.

Mund auf, Hirn aus

Ich nehme mich selbst von dieser Kritik nicht aus, kann in meinem Fall aber sagen, dass ich mir immer mehr Mühe gebe, die Dinge zu hinterfragen. Und zwar von allen Seiten, ohne vorgefertigten Standpunkt. Stuttgart 21 ist für mich so ein Fall, denn während die eine Seite das Projekt als komplettes Desaster, den dreifachen Weltuntergang und die Vernichtung des Planeten Erde bezeichnet und der Rest dagegen hält, dass alle S21-Gegner hirnlos, dumm und blöd seien und sich selbst erhängen gehen sollten, weil Protest an sich sowieso zum Kotzen sei und man auch kein Recht darauf habe, seine Meinung auf offener Straße kund zu tun¹, bin ich selbst einfach ruhig geblieben und habe ich mich ein bisschen mit dem Konflikt auseinander gesetzt – mein aktueller Standpunkt ist der, dass das Projekt nur eines von vielen seiner Art ist. Der Protest sollte sich in meinen Augen also eher gegen Großprojekte richten, deren Kosten der Staat maßlos unterschätzt. Die Tatsache, dass das Thema die Bürger jedoch so stark beschäftigt, sollte von der Politik nicht zum eigenen Wahlkampf genutzt werden, stattdessen sollten sich alle demokratischen Parteien gemeinsam für das Durchsetzen eines Volksentscheids einsetzen. Und bevor jetzt jemand kommt und mir erklärt, dass das rechtlich gar nicht möglich sei: Da sind wir schon wieder beim Thema dieses Beitrags, denn diese rechtlichen Schwierigkeiten sehen lediglich die Befürworter von Stuttgart 21, von unabhängiger Seite bzw. von Seiten der Projektgegner wurden sie bis heute nicht bestätigt.
Ein anderes Beispiel: Ich habe in den letzten Tagen mit vielen verschiedenen Menschen über die Castor-Demonstrationen diskutiert. Einige meiner Diskussionspartner waren dabei von der Sinnlosigkeit der Proteste überzeugt, Gorleben sei schließlich die einzige Möglichkeit, den Atommüll sicher² zu lagern. All denjenigen, die sich mit der Geschichte des Zwischenlagers Gorleben auseinander gesetzt haben, dürfte sich bei einer solchen Aussage der Magen umdrehen. Doch die Politik unserer aktuellen Regierung hat tatsächlich dazu beigetragen, dass nicht nur Atomkraftbefürworter, sondern auch die noch etwas unentschlosseneren Atomkraftgegner das Gesagte für bare Münze nehmen und nicht hinterfragen. Stattdessen plappert man munter nach, was in Berlin vorgeplappert wird – Mutti Merkel ist schließlich Physikerin, sie muss es also wissen.

Desinformiert diskutiert und regiert es sich besser

Die Nation der Dichter und Denker weigert sich, selbst zu denken. Sie weigert sich, zu hinterfragen. Und das alles angetrieben von einer Politik, die nicht den Eindruck macht, als würde sie sich davon stören lassen – alle aktuell im Bundestag vertretenen Parteien rügen meiner Ansicht nach gerne den Populismus ihrer Kontrahenten, greifen gleichzeitig jedoch selbst gerne auf selbigen zurück. Denn: Mit nichts gewinnt man Wählerstimmen besser, als mit fein gestreuter Desinformation. Aber: Mit nichts diskutiert es sich unsachlicher, hysterischer und hektischer, als mit breit gestreuter Desinformation. Und: Nichts haben wir lieber, als einen großen, klumpigen Haufen stinkender Desinformation.
¹ Viele derer, die Letzteres behaupten, verteidigen die Aussagen Thilo Sarrazins parallel dazu damit, dass ihm sein Recht auf freie Meinungsäußerung gewährt werden müsse. Abgesehen davon, dass ihm dieses Recht nie streitig gemacht worden ist, frage ich mich: Sarrazin hat Meinungsfreiheit, die Anderen aber nicht? Und das ist weshalb so? ² Wer hat eigentlich damit angefangen, im Zusammenhang mit Atomkraft ernsthaft von ‘Sicherheit’ zu reden?
Moritz Steglitz ist der Betreiber des Sockenblogs und schreibt dort regelmäßig zu allen möglichen Themen. Der vorliegende Artikel ist im Original bei ihm erschienen.

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