Die DDR und der Humanismus

mensch_groschopp_72Der Kulturwissenschaftler Horst Groschopp, lang­jäh­ri­ger Hochschullehrer an der Berliner Humboldt-Universität und von 2003 bis 2009 Präsident des Humanistischen Verbandes Deutschland (HVD), hat mit dem jetzt vor­ge­leg­ten Buch „Der ganze Mensch“ eigene Studien aus den Jahren 1989-1993 zur Kulturgeschichte der DDR wie­der auf­ge­grif­fen und ver­tieft. Ein wert­vol­les und not­wen­di­ges Buch.

Entstanden ist ein über­aus pro­fun­des Werk über das ost­deut­sche bzw. DDR-Kulturkonzept, das auf Debatten in den Jahren 1933 bis 1945 basierte: Die zum einem im Pariser Exil bür­ger­li­cher, sozi­al­de­mo­kra­ti­scher und kom­mu­nis­ti­scher deut­scher Antifaschisten statt­fan­den sowie dann spä­ter auch unter deut­schen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion.

Groschopp hat in sei­nem Buch eine sol­che Fülle von Namen und Fakten zusam­men­ge­tra­gen, so dass man mit Fug und Recht von einem Nachschlagewerk spre­chen kann. Ein Werk, das hilft, kul­tur­po­li­ti­sche Entwicklungen – Fortschritte, aber auch Brüche – bes­ser nach­voll­zie­hen zu kön­nen.

Beim Schreiben die­ses Buches ließ sich Groschopp von sol­chen Fragen lei­ten: War die DDR ein huma­nis­ti­sches Land? Denn die DDR war wohl der ein­zige Staat welt­weit, der den Begriff Humanismus in sei­ner Verfassung ver­an­kert hatte. Was unter­schied den DDR-Humanismus vom kon­ser­va­ti­ven Humanismus-Begriff, wie er noch heute in der Bundesrepublik gül­tig ist? Worin bestand der spe­zi­fisch deut­sche „Kultursozialismus“ von Walter Ulbricht und Alfred Kurella? Und wes­halb musste die­ser letzt­lich schei­tern?

Zu Walter Ulbricht (1893 – 1973) schreibt Groschopp: „So kam dann, dass ‘Humanismus’ in der DDR aus der Gedankenwelt eini­ger Gelehrter und Pädagogen in die Gesellschaft hin­ein sich aus­brei­tete. Wohl in kei­nem Land wurde dar­über so lange, breit, inten­siv und hoch­po­li­tisch dis­ku­tiert, die Bevölkerung, die Schulen, die Betriebe und die Freizeit errei­chend. (…) Walter Ulbricht war der große Verfechter einer Verbindung von Sozialismus mit einem Humanismus, wie er ihn ver­stand und wie er ihn den Zeiten Volksfront vor dem Zweiten Weltkrieg in Paris und in beson­de­rem Kontakt mit Heinrich Mann (1871 – 1950) lernte…“ (S. 18)

Der Ausgangspunkt für die Humanismuskonzepte von KPD/SED und in der SBZ/DDR „liegt in einer zeit­lich kur­zen und per­so­nell begrenz­ten Humanismus-Debatte 1932/33. Den Anlass bil­de­ten die huma­nis­ti­schen Frühschriften aus den Jahren 1843/44 von Karl Marx (1818-1883), damals nur Experten bekannt. (…) ‘Marx [so Herbert Marcuse; SRK] nennt mehr­fach … den posi­ti­ven Kommunismus, der die Aufhebung der Entfremdung und Verdinglichung leis­tet, Humanismus’ (…) Ähn­lich fort­wir­kend ist die zeit­glei­che Sicht von Alfred Kurella (1895 – 1975) auf ‘sozia­lis­ti­schen Humanismus’, dann 1936/39 in Moskau aus­ge­ar­bei­tet und schließ­lich nach 1957 in die DDR inno­viert.“ (S. 19/20)

Groschopp hat sein Buch zwi­schen Einführung („Humanismus und Herrschaft der SED) und Schluss („Wie huma­nis­tisch war die DDR?) in sie­ben Kapitel geglie­dert, auf die genauer ein­zu­ge­hen den Rahmen die­ser Rezension spren­gen würde. Denn, wie oben bereits gesagt, die gebo­tene Materialfülle ist immens. Abgerundet wird diese Arbeit mit einer Über­sicht über den „Verlauf der Verfassungsdebatten in der SBZ/DDR 1946 – 1949 und 1967/68“.

Im ers­ten Kapitel „Weichenstellungen in Deutschland“ geht es um Humanismus und Verfassungsdenken, den Begriff ‘Wahre Humanität’ in der DDR-Verfassung von 1949 und Gegenläufiges im Westen (‘Abendländischer Humanismus’).

Hierin kon­sta­tiert Groschopp etwas sehr Bemerkenswertes, das auch noch für heu­tige gesamt­deut­sche Debatten von Relevanz sein dürfte:

„Bei der fort­dau­ern­den Rückwärtsgewandtheit spielte auch eine wich­tige Rolle, dass die Kirche in allen vier Besatzungszonen von einer tat­säch­li­chen Entnazifizierung ver­schont blieb. (…) Im Osten wirkte zunächst die in der Sowjetunion gewach­sene beson­dere Vorstellung der SMAD über das Staat-Kirche-Verhältnis begüns­ti­gend auf die Wiederbelebung kirch­li­chen Lebens – bei poli­ti­scher Enthaltsamkeit. ‘Die sowje­ti­schen Kirchenoffiziere [so zitiert Groschopp aus Greschat: Protestantismus im Kalten Krieg] brach­ten aus ihrer Heimat die Vorstellung mit, dass die Kirche sich auf die Wahrnehmung pas­to­ra­ler Handlungen beschränkte, kari­ta­tive Tätigkeiten nur im Ausnahmefällen aus­übte und sich zu politisch-gesellschaftlichen Fragen eigen­stän­dig über­haupt nicht äußerte.“ (S. 52) Ein teil­weise Irrglaube, wie er auch heut­zu­tage von nicht weni­gen DDR-sozialisierten Links-Politikern gepflegt wird.

Aber so Groschopp: „Die Kulturvorstellungen der SED wirk­ten beson­ders in Arbeits- und Bildungsprozesse sowie in das ganze Rechtssystem hin­ein. Das neue gesell­schaft­li­che System trat den Bürgerinnen und Bürgern weni­ger als Konzept, son­dern ganz prak­tisch als zu bewäl­ti­gende Lebensumstände ent­ge­gen. Das führte auf Dauer zu Einstellungsänderungen. Gerade diese Zwänge – die, das darf nicht über­se­hen wer­den, von einer Mehrheit auch als Befreiung erlebt wur­den von kirch­li­chen und reli­giö­sen Zumutungen – beför­der­ten den mas­sen­haf­ten, staat­li­cher­seits will­kom­me­nen Kirchenaustritt. Christen und ihre Kirchen sahen und sehen dies anders. Das liegt in der Natur sol­cher Prozesse.“ (S. 52/53)

Das zweite Kapitel „Vorgeschichten“ wen­det sich mit die­ser Frage Karl Marx (und vie­len sei­ner Interpreten) zu: ‘Humanismus’ ver­sus ‘Realismus’ – ‘rea­ler Humanismus’. Groschopp geht u.a. auf frühe Debatten in der jun­gen Sowjetrepublik und nach dem Scheitern der Ungarischen Räterepublik sowie im Pariser Exil ein. Hierfür ste­hen u.a. Namen wie der bereits erwähnte Alfred Kurella,  Eugen Varga (1879 – 1964), Georg Lukacs (1885 – 1971), Johannes R. Becher (1891 – 1958) und Klaus Mann (1906 – 1949). Letzterer gab in den Pariser Debatten eine Definition für den Begriff „sozia­lis­ti­scher Realismus“.

Den „Anfang der Verfassungsdebatte und Humanismus-Diskurse in der SBZ“ behan­delt das dritte Kapitel. Hier geht es u. a. ange­sichts des Stalin’schen Terrors um die Frage „Humanismus und Terror“, aus­ge­hend vom gleich­na­mi­gen Essay des fran­zö­si­schen Philosophen Maurice Merleau-Ponty (1908 – 1961). Doch nach dem Über­fall des faschis­ti­schen Deutschland auf die Sowjetunion stand dies im Vordergrund: „Humanismus gegen die Naziideologie“. Nicht nur kom­mu­nis­ti­sche Exilanten wand­ten sich die­ser Frage/Aufgabe zu. Auch in den Kriegsgefangenenlagern bekam das Thema Humanismus Auftrieb. Bereits früh­zei­tig mach­ten sich hier Offiziere und teil­weise auch Mannschaften Gedanken für ein bes­se­res Nachkriegsdeutschland. Gemeinsamer Nenner für alle Anti- und Nichtfaschisten könne hier der Humanismus sein, so die über­wie­gende Meinung. Initiativ wurde hier Hauptmann Dr. Ernst Hadermann (1896 – 1968). An Debatten und der Ausarbeitung von Konzepten betei­lig­ten sich auch kriegs­ge­fan­gene Militärgeistliche wie Friedrich Wilhelm Krummacher (1901 – 1974). In die­sem Zusammenhang kam es wohl zum ers­ten orga­ni­sier­ten Dialog zwi­schen deut­schen Kommunisten und Christen/Theologen. Und dies sollte Folgen haben.

„In der SBZ begann die SED mit­hilfe der sowje­ti­schen Besatzung schon früh­zei­tig Staat und Kirche sowie Schule und Religion zu tren­nen. Sie ver­mied aber selbst in den frü­hen 1950ern, als die Auseinandersetzungen zwi­schen Staat und Kirchen einem ‘Kulturkampf’ gli­chen, ihre im NKFD 1944 gemach­ten Zusagen gänz­lich zu revi­die­ren. Das betraf vor allem zwei ‘stille Abkommen’. Erstens wurde den Kirchenvertretern zuge­sagt, kei­nen neuen Freidenkerverband zu unter­stüt­zen. (…) Als im Frühsommer 1946 tat­säch­lich beim Zentralsekretariat der SED ein Antrag ein­ging, eine neue Freidenkerorganisation zu grün­den, wurde er prompt abge­lehnt. (…) Die zweite Verabredung war zugleich eine Einschränkung, näm­lich die Kultfreiheit der Kirchen.“ (S. 188/189) Das bedeu­tete in der Praxis, daß zu den „reli­giö­sen Aufgaben der Kirchen“ der Bildungsbereich nicht mehr gehörte – was also die reale Trennung von Kirche/Religion von der Schule bedeu­tete.

Mit den Humanismus-Konzepten, wie sie deut­sche Exilanten und Kriegsgefangene erar­bei­tet hat­ten, begann nach dem 8. Mai 1945 in der sowje­tisch besetz­ten Zone Deutschlands die Neuordnung aller Lebensbereiche. Für die erste Nachkriegs-Kulturkonzeption der KPD ste­hen vor allem der Name Anton Ackermann (1905 – 1973), der zen­trale Kulturausschuss von KPD, SPD und FDGB und der Kulturbund zur demo­kra­ti­schen Erneuerung (spä­ter Kulturbund der DDR). Hier wur­den ent­spre­chende Vorschläge fürs SED-Parteiprogramm, für zahl­rei­che Gesetze vor allem im Bildungsbereich erar­bei­tet. Die nach­fol­gende Kulturpolitik von Partei und Staat wurde dann für mehr als 20 Jahre auch maß­geb­lich mit­be­stimmt von Alexander Abusch (1902 – 1982). Bereits 1946 began­nen Vorarbeiten für eine neue Reichsverfassung, bzw. wie es sei­ner­zeit kor­rekt hieß, für eine „Verfassung für eine demo­kra­ti­sche deut­sche Republik“. Alle Beteiligten gin­gen dabei von Gesamtdeutschland aus. Erst nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Grundgesetz wurde aus dem end­gül­ti­gen Verfassungsentwurf eine „Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik“. Bereits im ers­ten Entwurf  fan­den sich die Begriffspaare „echte Demokratie“ und „wahre Humanität“. Entworfen hatte den Entwurf, wie auch alle wei­te­ren, der Jurist Karl Polak (1905 – 1963). Eingebracht in diese und spä­tere Debatten hat sich auch immer wie­der Victor Klemperer (1881 – 1960)

Im vier­ten Kapitel geht es um den „Sozialistischen Umschlag der Humanismus-Debatte“, begin­nend bereits 1947. Durch „neuen Humanismus“ sollte eine Erziehung zur Menschlichkeit erreicht wer­den. Hierfür steht ganz beson­ders der Reformpädagoge Heinrich Deiters (1887 – 1967).

Groschopp geht in die­sem Zusammenhang aus­führ­lich auf den wei­te­ren Verlauf der Verfassungsdiskussion bis zum Sommer 1949 ein. Insbesondere auf die Arbeit des Ausschusses für Kulturpolitik und die darin agie­ren­den Persönlichkeiten aus allen Parteien der SBZ, er nennt auch neben ihnen wir­ken­den Parteilosen und Theologen. Vieles wurde auch von den CDU-Vertretern mit­ge­tra­gen, bis auf eines. So gab die CDU im März 1949 zu Protokoll: „Das Recht der Eltern auf die Erziehung der Kinder muss gewahrt wer­den, die Jugend in Ehrfurcht vor Gott, vor Alter und Erfahrung erzo­gen wer­den.“ (S. 280) Bis auf die „Erziehung in Ehrfurcht vor Gott“ gab es kei­nen Dissenz… Groschopp beleuch­tet in die­sem Kapitel auch die Kulturarbeit der Gewerkschaften und wei­te­rer Organisationen.

Das fünfte Kapitel ist über­schrie­ben mit „Humanismus und Begründung der DDR-Kulturpolitik“. Groschopp schreibt, dass zu den ers­ten Beschlüssen der ers­ten DDR-Volkskammer das Jugendgesetz vom 8. Februar 1950 gehört hat. Dieses bestimmte „die Erziehung der Jugend im Geiste wah­rer Demokratie und eines ech­ten Humanismus“. (S. 299)

Er geht auch auf die „Wirren“ nach Stalins Tod 1953 ein, in der Sowjetunion selbst und auch in der DDR (Formalismus-Debatte, „Tauwetter“).  So kam es 1957 zu neue­ren kul­tu­rel­len Konzeptionsbildungen, für die neben Walter Ulbricht vor allem der inzwi­schen aus der Sowjetunion heim­ge­kehrte Alfred Kurella steht. In die­ser Zeit mel­dete sich in Sachen Humanismus nicht min­der Wilhelm Girnus (1906 – 1985) zu Wort. Dieser for­derte u.a. dass außer­eu­ro­päi­sche Kulturen nicht län­ger „Gegenstand der Spezialforschung“ sein, son­dern in einen „Humanismus als einer all­ge­mein­mensch­li­chen Lehre“ ein­flie­ßen.

1960 kam es dann mit einem Aufsatz in der sowje­ti­schen „Philosophischen Enzyklopädie“ zu einer offi­zi­el­len Humanismus-Definition. Groschopp erwähnt einen Abschnitt beson­ders: „Der Humanismus habe sich nicht nur in Westeuropa ent­wi­ckelt. Humanistische Ideen, so zeige die neuere Forschung, schon früh bei den Völkern der UdSSR, des alten China und ande­ren Völkern des Ostens nach­zu­wei­sen. So ent­stand die Idee der ‘Menschlichkeit’ in China im 8. bis 12. Jahrhundert. Sie war gegen reli­giöse Normen des Buddhismus und Taoismus gerich­tet. Humanistisches Denken in der Philosophie und der wis­sen­schaft­li­chen Literatur lasse sich für Mittelasien, Georgien und Armenien im 10. bis 12. Jahrhundert auf­zei­gen, in Rußland im 15. und 16. Jahrhundert.“ (S. 361)

Wenn man neben dem bereits erwähn­ten (west­li­chen) Eurozentrismus auch die (oft­mals unkri­ti­sche und idea­li­sierte) UdSSR-Zentriertheit sei­ner­zei­ti­ger sowje­ti­scher Autoren weg­läßt, dann kann man einer sol­chen Aussage auch heute noch zustim­men!

Kapitel 6 wid­met sich den „Aufbau und Ende des ‘Kultursozialismus’“. Nach 1961 nahm sich die DDR, so Groschopp, vor, die bes­sere Variante deut­scher Kultur aus­zu­prä­gen. Damit war kei­nes­falls die „sozia­lis­ti­sche deut­sche Nation“ gemeint, wie sie zehn Jahre spä­ter unter Erich Honecker pro­pa­giert wurde. Zu den sei­ner­zei­ti­gen Debatten schreibt der Autor u.a.:

„Am Schluss steht dann Kurellas Credo, das ihm in der DDR Programm wurde und woran er letzt­lich auch schei­terte: ‘Humanismus als inte­grie­ren­der Bestandteil des Marxismus, des wis­sen­schaft­li­chen Sozialismus – ja! Klassischer Humanismus als Ausgangspunkt einer anti­ka­pi­ta­lis­ti­schen Kritik – ja! Aber bür­ger­li­cher Humanismus als ‘Ergänzung’ des Sozialismus, als Maßstab für seine Verwirklichung – nein!’

Vielleicht lässt sich im 1965er DDR-Bildungsgesetz sowohl ein poli­ti­scher Erfolg von Kurellas Konzept als auch bereits der offi­zi­elle Abschied davon able­sen. Das Gesetz nennt ‘Humanismus’ ein Ergebnis, nicht Zukunftsaufgabe.“ ( S. 403)

Ausführlich geht Groschopp dann auf den „Kahlschlag“ durch das 11. ZK-Plenum der SED vom 15. bis 17. Dezember 1965 ein. Das gilt auch für die von Walter Ulbricht geplante Konferenz „Humanismus und Realismus“.

Während sei­ner­zeit einer­seits rela­tiv ergeb­nis­of­fene Debatten über Sozialismus und Humanismus durch die Konservativen im SED-Parteiapparat abge­blockt wur­den, kam es ande­rer­seits 1967/1968 in der DDR zu einer brei­ten und öffent­li­chen Verfassungsdiskussion. Bereits im ers­ten Entwurf hieß es: „Die Deutsche Demokratische Republik schützt und för­dert die sozia­lis­ti­sche Kultur, die dem Frieden, dem Humanismus und der Entfaltung des Sozialismus dient. Sie för­dert das kul­tu­relle Leben der Werktätigen, pflegt die huma­nis­ti­schen Werte der Weltkultur und ent­wi­ckelt die sozia­lis­ti­sche Nationalkultur als Sache des gan­zen Volkes.“ (S. 438/439)

Diese und andere Formulierungen ver­an­las­sen Groschopp, der Frage nach­zu­ge­hen, wel­ches die Ursache war, den Humanismus der­art zu beto­nen und so umfas­send zu defi­nie­ren.

Der Beantwortung soll auch ein his­to­ri­scher Rückblick hel­fen, aus­ge­hend von der Gründung des ers­ten deut­schen „Kultusministeriums“ 1817 im Königreich Preußen.

Und auf S. 457 wird deut­lich, warum Groschopp sei­nem aktu­el­len Buch den Titel „Der ganz Mensch“ gege­ben hat. Er nimmt damit Bezug auf einen gleich­na­mi­gen Sammelband von Alfred Kurella aus dem Jahre 1969. Der Autor wid­met sich dann den phi­lo­so­phi­schen Wörterbüchern der DDR und ihren immer wie­der leicht ver­än­der­ten Humanismus-Definitionen ab 1964.

Weitere Themen bil­den die „kul­tu­relle Massenarbeit“ in volks­ei­ge­nen Betrieben und den Kulturhäusern sowie die „Okkupation des Humanismus“ durch die Philosophen auf deren Humanismus-Kongreß im Jahre 1984. Groschopps Verdikt für die­sen Kongreß fällt ver­nich­tend aus, war doch die­ser wirk­lich von der tie­fen gesell­schaft­li­chen Stagnation in den sozia­lis­ti­schen Staaten in Ost- und Mitteleuropa gekenn­zeich­net. Er benennt zwei sys­tem­be­dingte Erkenntnisblockaden seit der Ära Honecker in der DDR. Die erste habe sich aus dem unbe­ding­ten Festhalten an der Erziehung eines jeden zu einem „gan­zen Menschen“, zu einer „all­sei­tig ent­wi­ckel­ten sozia­lis­ti­schen Persönlichkeit“ unter den tat­säch­li­chen gesell­schaft­li­chen Verhältnissen in der DDR erge­ben. Eine zweite und grund­sätz­li­chere Denkblockade habe in der unzu­läs­si­gen Verknüpfung der „his­to­ri­schen Mission der Arbeiterklasse“ mit der Problematik des Humanismus als einer kul­tu­rel­len und his­to­ri­schen Gedanken- und Realbewegung bestan­den. Groschopp fol­gert: „Der spe­zi­elle DDR-Humanismus ver­lor sein ima­gi­nier­tes Subjekt [die Arbeiterklasse; SRK], das ihn tra­gen sollte. (S. 491)

Und lei­tet damit zum sie­ben­ten Kapitel über: „Am Ende der Illusion – die Arbeiterklasse schläft nicht“. Groschopp schreibt hier: „Marx hatte kei­nen wis­sen­schaft­li­chen Klassenbegriff.“ In die­sem Kapitel greift der Autor auf seine Dissertation und ein Lehrheft aus sei­ner Feder zurück. Seine jetzt ver­öf­fent­lich­ten Schlussfolgerungen hat er bereits am 1. Februar 2003 auf einer Sondersitzung des Forschungskollegiums „Das Kapital neu lesen“ an der FU Berlin vor­ge­tra­gen. Was hier zunächst antimarxistisch/antikommunistisch klingt, rela­ti­viert sich, wenn man sich selbst in die ent­spre­chen­den Marx-Schriften ver­tieft. Dieses Kapitel sollte gerade mar­xis­ti­schen und marx-neugierigen Lesern zur auf­merk­sa­men Lektüre anemp­foh­len wer­den. Groschopp bilan­ziert mit Verweis auf Friedrich Engels (1820 – 1895) – Vorwort zur Schrift „Die Lage der arbei­ten­den Klasse in England“: „Von einer sol­chen Haltung soll­ten auch die Konzeptionen vom Humanismus in der DDR und die Versuche ihrer Umsetzung beur­teilt wer­den.“ (S. 513)

Wie huma­nis­tisch war denn nun die DDR?

Groschopp erteilt zunächst eine andere, sehr rich­tige Antwort:

„Sich his­to­risch dem Humanismus-Verständnis der DDR zu nähern, wen­det sich gegen eine Erinnerungskultur, wie sie in den ers­ten zwan­zig Jahren nach dem Ende die­ses Staates gepflegt wurde. Verlautbarungen von Politikern, in wis­sen­schaft­li­chen Texten, Fernsehdokumentationen und Spielfilmen unter­stütz­ten Zuspitzungen tota­li­ta­ris­mus­theo­re­ti­sche Argumente. All dies erzeugte ein öffent­li­ches Bild von der DDR, das diese vor allem als ein Kontinuum deut­scher Diktaturen, als Terrorherrschaft, ‘Unrechtsstaat’ sieht. Es ging um eine mög­lichst voll­stän­dige Delegitimierung die­ses Staates… (…) Diese Vorgänge behin­der­ten Entideologisierung, Differenzierung, Multiperspektivität und Pluralismus…“ (S. 515)

Groschopp hat zum DDR-Humanismus eine Vielzahl von Befunden und Fragen notiert, die jede für sich Ausgangspunkt für wei­tere Forschungen sein kön­nen. U.a. schreibt er: „Die DDR war durch­aus ein huma­nis­ti­sches Land – trotz allem, gemes­sen an den Zuständen der Welt, mit all den gemach­ten und noch fol­gen­den Einschränkungen. ‘Land’ ist nicht nur der Staat DDR, son­dern das sind die Menschen in deren Gesellschaft. Wer will behaup­ten, sie seien – große Teile davon oder sogar eine Mehrheit – nicht huma­nis­tisch gewe­sen? Was waren sie dann? Es ist doch nicht zu über­se­hen, daß sich das Gros der Bevölkerung in sei­nem Leben welt­lich (säku­lar) ori­en­tierte. Die Menschen ach­te­ten in der Regel ihre eigene Individualität wie die von ande­ren. (…) In ihrer Gesellschaft hat­ten sie Formen der Solidarität aus­ge­bil­det und woll­ten diese aus­bauen. Rassismus wurde unter­drückt. Wissenschaft besaß einen hohen Stellenwert. Sie leb­ten in kei­ner idea­len Welt… (…) Da die Menschen in ihrer Mehrheit  nicht christ­lich, nicht anders reli­giös, nicht plump athe­is­tisch waren und offen antih­u­ma­nis­ti­sche Orientierungen eher sel­ten vor­ka­men, und da sie nicht als ‘wer­te­los’ gel­ten kön­nen, liegt das soeben getrof­fene Urteil nahe. (…) Der Begriff Humanismus war all­ge­mein üblich. Was dazu gesagt wurde, öffent­lich zugäng­lich. Humanismus wurde in der ent­spre­chen­den Schulliteratur wie in den wis­sen­schaft­li­chen Schriften immer mehr his­to­risch rich­tig, nach dem jewei­li­gen Wissensstand abge­lei­tet und gesell­schaft­lich viel­ge­stal­tig ver­wen­det, um all­täg­li­che wie welt­weite Vorgänge und Epochen zu bewer­ten. (…) Als Weltanschauung war Humanismus viel­leicht prä­gen­der als bis­her ange­nom­men, weil Menschen als sol­che – nicht als Ebenbilder eines Gottes oder eines Prinzips – in den Mittelpunkt der Debatten gerie­ten und ihr Tun und Lassen nach Gradmessern ein­ge­schätzt wurde, die aner­kann­ter­ma­ßen selbst von Menschen gemacht wur­den.“ (S. 529/530)

Dem ist nichts hin­zu­zu­fü­gen!

Horst Groschopps Buch ist auch des­halb so wert­voll und not­wen­dig, weil in bun­des­deut­schen Publikationen über den Humanismus die DDR in der Regel nicht vor­kommt. Selbst wenn es sich bei deren Autoren um renom­mierte Menschen aus dem säku­la­ren Humanismus han­delt. Insofern kommt dem von Groschopp gewähl­ten Untertitel „Ein Beitrag zur deut­schen Kulturgeschichte“ bewusst eine beson­dere Bedeutung zu.

Siegfried R. Krebs

Horst Groschopp: Der ganze Mensch. Die DDR und der Humanismus – Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte. 560 S. Paperback. Tectum-Verlag. Marburg 2013. 29,95 Euro. ISBN 978-3-8288-3163-6

[Erstveröffentlichung: hpd]


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