Was genau enthalten die Clinton-Reden? Die meistpublizierten Aussagen soweit sind ihre Aussage, dass sie "eine öffentliche und eine private Meinung" haben und beide voneinander trennen müsste, dass die Beteiligung der Wallstreet an der Finanzkrise "übertrieben und politisiert" sei und dass das richtige Maß an Regulierung der Wallstreet - "nicht zu viel und nicht zu wenig" - nur im Zusammenspiel mit der Wallstreet und ihrem Fachwissen zu finden sei. Daneben erklärt sie, eine "freie westliche Hemisphäre mit offenen Grenzen" und entsprechendem Freihandel anzustreben und dass Amerika "zwei moderate und pragmatische" Parteien brauche und erteilt damit sowohl einem Bernie Sanders als auch einem Donald Trump oder Ted Cruz eine klare Absage. Viel mehr als diese Aussagen ist bislang nicht bekannt, aber Wikileaks hat weitere Mails versprochen.
Die Bewertung dieser Offenbarungen muss in zwei Dimensionen erfolgen. Erstens, wie wirkt sich das auf die Kandidatin Clinton aus? Ist sie eine Lügnerin und Betrügerin, die das eine sagt und im Amt das andere tut, wie es Sanders-Unterstützer immer prophezeit haben? Zweitens, welche Auswirkungen würden die Reden haben, wenn Clinton nicht gerade gegen Donald Trump antreten würde? Es muss an dieser Stelle klar gesagt werden, dass man diese Fragen aus einer (für Clinton) wohlwollenden oder weniger wohlwollenden Perspektive betrachten kann. Ich habe aus meiner Sympathie für sie bisher keinen Hehl gemacht; die folgenden Ausführungen sind also in diesem Licht zu betrachten.
Widmen wir uns zuerst der Frage nach Clinton selbst. Rein technisch gesehen erfahren wir über sie in den neuen Offenbarungen nichts, was wir nicht schon vorher wussten. Auch das teilt sie mit dem NBC-Mitschnitt über Trumps sexuelle Übergriffe: neu ist das alles eigentlich nicht. Wer hier überrascht tut, hat die letzten Monate und Jahre unter einem Stein verbracht. Neu ist allenfalls das Explizite, das sich-nicht-verstecken-können. Die Clinton-Äußerungen zeigen aber vor allem ihre große Nähe zu Barrack Obama, denn die Äußerungen hätten genausogut von ihm kommen können. Das mag überraschen. Aber bei Obama fielen Image und Realität schon immer auseinander. Weder der Hope&Change-Messias des Wahlkampfs 2008 noch der liberale Tyrann der republikanischen Propaganda der Jahre seither haben viel mit der Realität gemein. Obama ist ein pragmatischer, moderater Zentrist - in einem Land, in dem sich der politische Schwerpunkt seit den 1980er Jahren nach rechts verschoben hat.
Wenn Clinton also erklärt, dass die Wallstreet in Regulierungsbemühungen eingebunden werden muss ist das identisch mit Obamas Erklärung 2009, dass die Versicherungsindustrie "a chair at the table" habe - nur eben nicht alle Stühle kaufen dürfe. Wenn sie sagt, dass Democrats und Republicans beide "moderat und pragmatisch" sein sollten - das predigt Obama seit 2004. Offene Grenzen und Freihandel als wichtigstes Mittel zum Wohlstand? Ist Obamas Politik von Anfang an; er kämpft heute noch so gut er kann für TPP. Wie man ernsthaft aus Clintons (oder Obamas) bisheriger Karriere zu einem anderen Schluss kommen kann ist mir schleierhaft. Und ein Politiker muss seine "öffentliche und eine private" Meinung trennen? Duh, you don't say. Das macht jeder Politiker seit Adam und Eva.
Genau deswegen sind solche Enthüllungen und Nachforschungen durch Journalisten auch so wichtig. Sie erlauben es der Öffentlichkeit, ein genaues Bild von einem Politiker zu bekommen. Man muss auch vorsichtig sein, einer der beiden Darstellungen zu viel Gewicht zu geben. Clinton unterstüzte auch einmal den Irakkrieg, aber sie hat ihre Meinung geändert. Auch das passiert häufig. Die aktuellen Enthüllungen sind etwa kein Beleg dafür, dass Clintons opportunistischer Meinungswechsel bezüglich TPP reine Augenwischerei ist. Dies mag durchaus sein, und ihr Herz ist ziemlich sicher auf Seiten des Freihandels. Aber im Guten wie im Schlechten ist Clinton Politiker. Wenn die öffentliche Meinung gegen TPP ist, ist sie auch gegen TPP. So sollte das in einer Demokratie auch funktionieren.
Ihre Kritiker von links übersehen auch die Politikfelder, auf denen sie deutlich progressiver als der Mainstream ist. Und ja, die gibt es, gab es immer. Clinton war 2008 die "linkere" Kandidatin vor Obama! Es ist die Außenpolitik, auf der sie sich stark von ihm und anderen Linken unterscheidet, weil sie ein klarer Falke mit einer Vorliebe für bewaffnete Interventionen ist (woraus sie auch nie ein Geheimnis gemacht hat). Aber in der Innenpolitik hat sie Positionen, die häufig links von Obama sind, oder wenigstens ebenbürtig. So ist ihr Hauptpolitikfeld, ihr Leib-und-Magen-Thema, die Familienpolitik. Clinton kämpft für Regelungen, wie wir sie in Europa schon lange haben: bezahlter Mutterschaftsurlaub, garantiertes Rückkehrrecht in den Beruf für mindestens ein Jahr für Mütter, bezahlte Krankheitstage, eine starke Ausweitung der Vorschulbetreuung und vieles mehr. Hier ist sie ein größerer Fan europäischer Sozialstaaten als Bernie Sanders, für den das nie ein großes Thema war (was möglicherweise auch seine geringere Attraktivität für weibliche Wähler erklärt). Clinton ist außerdem eine glaubhafte Vertreterin von Minderheiten.
Um die Betrachtung der ersten Fragestellung abzuschließen: Clinton hat sicherlich eine größere Nähe zur Wallstreet und einen moderateren Instinkt, als die Rhetorik der Vorwahlen manchmal vermuten ließ. Aber es ist nicht so, als wäre das Land bisher davon ausgegangen, sei sei eine Art weiblicher Bernie Sanders und fühlt sich nun verraten. Clinton gewann die Vorwahlen letztlich mit ihrer eigenen Botschaft, nicht, weil sie Sanders' komplett übernommen hätte.
Die zweite Frage ist etwas neutraler untersuchbar. Hätten die Enthüllungen ihr massiv geschadet, wenn nicht gerade Donald Trump ihr Gegner wäre? Das ist letztlich eine Variation der Frage, ob sie gegen einen anderen Republican - Mike Pence, John Kasich, Ted Cruz, Marco Rubio, Jeb Bush - auch gewinnen würde. Um das zuerst aus dem Weg zu schaffen: ich denke ja. Viele Beobachter des Wahlkampfs begehen den Fehler, Clintons Stärke allein Trumps Schwäche zuzuschreiben. Sie unterschlagen regelmäßig die tatsächlich existierende Basis, die von Clinton ebenso stark überzeugt ist wie Sanders' Fans von ihm, sie unterschlagen die Stärke ihrer Wahlkampforganisation, und sie unterschlagen die strukturellen Vorteile der Democrats in Form einer ordentlichen Wirtschaftsentwicklung, eines sehr beliebten Präsidenten und der Demographie.
Bei der Bewertung der Wirkung der Mails muss man sich außerdem vor Augen halten, dass der Wahlkampf gegen einen anderen Kandidaten nicht der Wahlkampf gegen Trump minus dessen rassistische und sexistische Ausschläge wäre. Ein Kampf gegen John Kasich etwa hätte völlig andere Themen. So wäre TPP vermutlich überhaupt kein Thema, weil die konservative Orthodoxie, der Kasich anhängt, keinerlei Probleme mit dem Abwandern von Industriejobs durch Freihandel hat. Stattdessen wäre die Frage nach Abtreibungsregeln und Planned Parenthood viel mehr auf der Platte, würde viel mehr über das Steuersystem und das Ryan-Budget gesprochen werden. Die Republicans ihrerseits würden viel mehr versuchen, Clinton als eine Linksradikale darzustellen. Die Enthüllungen hätten daher keinen so furchtbaren Boden, wie sie das jetzt - theoretisch, ohne den Trump-Faktor - hätten.
Man muss bei Analysen vorsichtig sein, den jetztigen Stand einfach als Basis zu nehmen und dann den Kandidaten auszutauschen. Diesen Fehler machen die Republicans gerade auch, wenn sie glauben, dass Mike Pence wesentlich erfolgreicher als Trump wäre, und diesen Fehler machen Democrats, wenn sie glauben, dass Bernie Sanders wesentlich besser abschneiden würde als Clinton. Die Kandidaten heißen Clinton und Trump, nicht Sanders, nicht Pence, nicht Kasich. Ein Jahr Wahlkampf, davon ein halbes Jahr unter einem intensiven Brennglas medialer Beobachtung und gandenloser gegnerischer Attacken verändert jeden Kandidaten. Clintons Resilienz gegen die Enthüllungen kommt auch von der ausführlichen Durchleuchtung, die sie vor, während und nach den Vorwahlen genießen durfte. Keiner der anderen Kandidaten kann das von sich behaupten. Man sollte deswegen vorsichtig sein, ihnen einen messianischen Status zu geben.