Gastbeitrag in 3 Teilen von Dr. Michael Willhardt
Teil 1
Schilfgewebe. Mehr Naturbaustoff geht nicht
Schilfpflanze in Pirto (Ungarn) Foto: Willhardt
Die Reise zu einem Herkunftsort von Schilfmatten und Schilfdämmplatten geht in die Vergangenheit und in die Zukunft. Einer der ältesten Baustoffe der Menschheit kann angesichts der heutigen Bedarfe nur ein Nischenprodukt sein und doch ist seine Geschichte ein Plädoyer für den Erhalt und für die Förderung der Vielfalt der Möglichkeiten und der Lebensentwürfe. Schilf ist ein Naturbaustoff par excellence, er wächst natürlich, wird nicht künstlich gedüngt oder mit Chemikalien behandelt und die regelmäßige Ernte fördert seinen Bestand. Ohne Ernte beginnt die Verlandung und verdrängt das Schilf. Auch bei der Verarbeitung bleiben die Schilfmatten ein reines Naturprodukt, sie werden nach dem Trocknen ohne jede zusätzliche Behandlung lediglich mit Draht verwoben.
Schilf
Schilf zählt neben den Baustoffen Lehm und Holz zu den ältesten der Menschheit. Allein schon deshalb, weil Schilf in traditionellen Siedlungsgebieten des Menschen zu finden war. Schilf bildet an Seen und Gräben und in Sumpf- und Feuchtgebieten natürliche Monokulturbestände. Das tief wurzelnde Schilfrohr kommt in stehenden und langsam fließenden Gewässern bis zu einem Meter Wassertiefe vor. Schilf findet sich auch auf nassen Wiesen und nicht überfluteten Standorten mit bewegtem und hoch stehenden Grundwasser. Es liebt nicht zu kalte Schlick- und Schlammböden, die stickstoffhaltig und basenreich sein sollten und verhältnismäßig sauerstoffarm sein können. Schnell fließende Wässer oder hohen Wasserstand erträgt es nicht. Die Art spielt bei der Verlandung von Gewässern eine Rolle, wenn sich zwischen den dichten Halmen Schlamm sammelt.
Das tief wurzelnde Schilfrohr kommt in stehenden und langsam fließenden Gewässern bis zu einem Meter Wassertiefe vor. Foto: Willhardt
Die Sumpffplanze wird bis zu vier Meter hoch, für die Nutzung als Baumaterial soll sie mindestens 250cm haben. Die Blütezeit reicht von Juli bis September. Die Früchte sind frühestens im Dezember reif. Die Vermehrung erfolgt in erheblichem Maß vegetativ. Die Pflanzen können bis zu 20 Meter lange Ausläufer bilden. Die Blätter bleiben auch bei Regen trocken, wie bei Lotusblumen perlt das Wasser ab und eine Benetzung der Fläche ist gering. Ganze „Schilfbestände“ stellen oft nur eine einzelne Pflanze dar und sie werden sehr alt. Im Donaudelta fand man Pflanzen, deren Alter auf ca. 8000 Jahre geschätzt wurde.
Ernte schadet dem Bestand nicht, sondern beugt einer Verschlechterung der Wasserqualität der Seen vor. Die Pflanze wird heute gezielt zur dekorativen Gestaltung von Uferpartien als Zierpflanze und zur Landgewinnung eingesetzt.
Nutzung
Die jungen Sprossen werden in einigen Gebieten als Gemüse verwendet, aus den getrockneten Wurzeln wird Mehl zum Brotbacken hergestellt. Der Geschmack ist für uns ungewohnt. Seit Jahrtausenden spielt Schilfrohr vor allem eine Rolle als Naturbaustoff. Schilfrohr dient in Form von Reet als Dachdeckmaterial. Heute werden in der Mehrheit mehrschichtige Schilfrohrplatten (20 bis 60mm, mit verzinktem Draht gebunden) oder als einfache Matten (Rabitzgeflecht) als Putzträger genutzt. Schilf nimmt keine Feuchtigkeit auf und verrottet kaum, es ist stabil und aufgrund seiner griffigen Oberflächenstruktur ein ausgezeichneter Putzgrund. Sein Gehalt an Kieselsäure ist überdies brandhemmend. In Lehm eingeputze Schilfrohrplatten werden seit Jahrzehnten erfolgreich in der Innendämmung eingesetzt. Die Matten sind auch für Trennwände und für den ökologischen Trockenbau geeignet. Dünne Matten aus Schilfrohr dienen zur Beschattung von Gewächshäusern, dickere als Windschutz.
Schilf im Reetdach Foto: Willhardt
Die Schilfproduktion erfolgte früher von Hand, heute werden Maschinen eingesetzt. Geerntet wird traditionell, wenn die Gewässer so stark zugefroren sind, dass sie Mensch und Maschinen tragen. Auch ist Frost vor der Ernte wichtig, damit die Halme, die man ernten und verarbeiten möchte, den Blattbesatz verlieren. Ernte und Verarbeitung spielen in Deutschland praktisch keine Rolle mehr. Die Schilfproduktion hat sich in die osteuropäischen Länder wie Ungarn, Rumänien oder auch nach Weißrussland verlagert, wird aber auch dort seltener.
Fortsetzung folgt