Die Blicke, denen ich ausgesetzt bin.

Von Annuntiator
Sie betreten das Wartezimmer und spüren, wie sich 12 Augenpaare auf Sie richten. Sie werden fixiert und beobachtet. Hoffentlich sieht man nicht auf meinem Hemd die Speisekarte der letzten Woche. Hoffentlich ist kein Fleck auf der Bluse.
Sie besteigen den Bus und spüren, wie Sie von den anderen Insassen beobachtet werden. Hoffentlich stelle ich mich beim Lösen der Fahrkarte nicht all zu schusselig an. Was werden die anderen von mir denken? Sie kommen auf die Kegelbahn und Ihre Mitkegler mustern Sie. Hoffentlich gefällt ihnen meine neue Jacke. Die sind modisch immer so kritisch. Da ist es nicht einfach, als modebewußte Person in Erscheinung zu treten.
Situationen, in denen wir dem Blick anderer ausgesetzt sind, könnte ich noch fortführen. Wir alle kennen solche Situationen, wo andere uns mit ihren Blicken fixieren und ein Urteil über uns fällen. Oft passen wir uns den Erwartungen dieser Blicke an. Sei es in der Familie, im Freundeskreis, im Beruf, im Sportverein oder in der Kirche.
Wir spüren die Blicke der anderen und wollen ihren Vorstellungen gerecht werden. Wir wollen dazugehören. Daher passen wir uns an. Wir wollen erkannten oder erahnten Erwartungen entsprechen. Denn ausgrenzende Äußerungen hören wir nicht gerne.
Du trägst keine Hose von dieser angesagten Markenfirma? Dann bist du nicht einer von uns.
Du stellst immer ernste Fragen? Dann gehörst du nicht zu unserem oberflächlichen Treffen.
Wir spüren die Blicke und wollen angenommen und geliebt sein.
Dabei vergessen wir, daß wir noch einem anderen Blick ausgesetzt sind. Es ist ein Blick, vor dem alle anderen Blicke null und nichtig sind. Denn es kommt die Stunde, in der es darum geht, in diesem Blick Gefallen zu finden. Es ist der Blick Gottes. Wir stehen unter seinem Blick. Können wir vor diesem Blick bestehen?
„Der Herr ging an ihm vorüber und rief: Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue.“ (Ex 34, 6), heißt es in Exodus Kapitel 34, Vers 6. Leider vergessen wir ob der Langmut Gottes seinen Blick.
Denn am Ende wird nicht gefragt, wem ich auf Erden alles gefallen habe. Am Ende steht die Frage: Gefalle ich Gott, so wie ich gelebt habe?
Sich dem Blick Gottes auszusetzen, muß uns nicht erschrecken. Denken wir an das Gleichnis vom barmherzigen Vater, der voller Freude seinen heimgekehrten Sohn in die Arme nimmt. Er nimmt ihn in die Arme ohne Vorhaltungen, ohne Nachfragen. Er freut sich, daß er heimgekehrt ist. Mit dieser Freude im Hinterkopf dürfen wir uns dem Blick Gottes aussetzen. Und je mehr wir fragen, kann ich mit meinem jetzigen Lebensstil, meinem jetzigen Handlungen vor Gottes Blick bestehen, desto mehr werden wir die Freiheit der Kinder Gottes erfahren.
Sich dem Blick Gottes auszusetzen macht uns frei von den Erwartungen des Zeitgeistes. Je mehr wir uns dem liebenden Blick Gottes aussetzen, desto weniger Macht gewinnt der Zeitgeist über unsere Herzen.
Der Ort, sich dem liebenden Blick Gottes auszusetzen, ist das Gebet. Im Gebet begegne ich Gott. Dort breite ich mein Leben vor ihm aus und lerne immer besser, was Gott wohlgefällig ist und was nicht. In seinem gütigen und barmherzigen Blick erstarke ich in der Unterscheidung der Geister.
Mit Gottes Hilfe kann ich den Erwartungen falscher Blicke widerstehen. Die Werteskala des Lebens wird in die richtige Reihenfolge geschoben. So erstarkt in mir meine Persönlichkeit. Eine Persönlichkeit, die nicht mehr von den Wellen des Zeitgeistes hin und her geworfen wird.
Je eher ich anfange, mich diesem liebenden, barmherzigen Blick Gottes auszusetzen, desto weniger muß ich mich am Ende vor dem alles entscheidenden Blick fürchten. „Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue.“ (Ex 34, 6)