Gerda Hasselfeldt hat in der Generaldebatte zum Haushalt im Bundestag einmal mehr die Forderung aufgestellt, dass Flüchtlinge und Migranten die deutsche Werteordnung akzeptieren müssen. Das reit sich in die Forderungen nach der Gültigkeit einer Leitkultur ein. Nicht nur in Deutschland, auch in Resteuropa und auch den USA wird eine Debatte um die Werte des Abendlands geführt und ihre Bedrohung durch den Zuzug von Menschen aus anderen Kulturen (was für die meisten in erster Linie „aus muslimischen Gesellschaften“ bedeutet). Dass man Besorgnis um unsere Werte verspürt, kann ich nachvollziehen. Ich möchte im Folgenden ausführen, in welchen Punkten ich mit dieser Debatte Probleme habe.
In dem von mir sehr geschätzten, weil überwiegen interessanten Podcast von Sam Harris hat dieser vor einiger Zeit die Diskussion darüber einerseits mit Douglas Murray, einem britischen konservativen Autor, wie auch mit Maryam Namazie, einer aus dem Iran geflohenen Bürgerrechtlerin unterhalten. Der erste fordert eine Begrenzung der Aufnahme von Flüchtlingen, da sich unter den Flüchtlingen nicht nur ein gewisser Prozentsatz von Terroristen, sondern auch ein deutlich größerer Prozentsatz von Menschen befinde, der aufgrund ihrer gesellschaftlichen Hintergründe Ansichten und Werte in unsere Gesellschaften bringe, die wir dort nicht haben wollen. Namazie hingegen teilt diese Ängste nicht, sondern fordert offene Grenzen für alle. Ich kann beide Debatten empfehlen, auch wenn die zweite nur bedingt stattfindet, da Namazie es nicht schafft, Harris ihren Standpunkt zu vermitteln. Inhaltlich bin ich sehr viel weiter bei ihr als bei Murray, ich werde mich aber vor allem mit seiner Argumentation beschäftigen.
Was sind unsere Werte?
Das erste Problem, das ich bei dieser Debatte habe, ist die Definition der Werte, die die westliche Welt, das Abendland, Europa oder Deutschland angeblich ausmachen. Wenn man – um einfach mal ein paar Politiker herauszugreifen – Horst Seehofer, Claudia Roth, Alexander Gauland, Sarah Wagenknecht, Angela Merkel und Joachim Gauck die Frage stellen würde, was „unsere Werte“ sind, so bin ich mir sehr sicher, dass wir sehr unterschiedliche Antworten bekommen. Teilweise vermutlich sogar ohne jede Überschneidung. Nehmen wir noch einen Bergbauern aus den Alpen dazu, eine Lesbe aus einem linksalternativen Club in Berlin, einen Burschenschafter, einen Pfarrer, ein Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, einen Gewerkschafter, Alice Schwarzer, den CEO eines Pharma- und Chemiekonzerns, einen Sozialarbeiter, einen Arbeitslosen und die nächsten Fünf, die uns auf der Straße begegnen. Sie alle sind Deutsche, aber ich bin mir sehr sicher, dass sie sich nicht verbindlich darauf einigen können, was „unsere Werte“ sind.
Wenn wir das jetzt noch international ausdehnen und Marine Le Pen, Geert Wilders, Viktor Orbán, Donald Trump, Noam Chomsky, Glenn Greenwald, John Oliver, Beppe Grillo, Barack Obama, Ted Cruz, Ben Carson, Richard Dawkins und Edward Snowden mit dazu nehmen, wird das Bild immer diffuser.
Aus meiner Sicht sind „unsere Werte“ ein reiner Schattenbegriff. Wir alle meinen, etwas darunter zu verstehen, aber das ist individuell etwas völlig anderes. Gemeinsame Werte, die unsere Gesellschaft, Europa, den Westen oder was auch immer ausmachen, sind bestenfalls eine Wunschvorstellung.
Es gibt eine ganze Menge Menschen innerhalb jeder dieser Ebenen, deren Werte mir kaum ferner sein könnten. Während es jeweils außerhalb in anderen Staaten, Gesellschaften und Kulturkreisen mit Sicherheit Menschen gibt, deren Werte mir um einiges näher sind. Die Idee, dass die Grenzen dieser Wertvorstellungen identisch mit Landes- oder Sprachgrenzen wären ist eine Illusion.
Wie stellen wir die Werte eines anderen fest?
Genau diese Vielfalt bringt uns dann direkt zu einem technischen Problem. Wie stelle ich überhaupt fest, welche Sichtweisen und Werte ein anderer hat? Die Union hatte dazu bereits öfters Idee eines Fragebogens, in dem ein Migrant oder Flüchtling sich zu allen möglichen Punkten äußern soll. In der hessischen Variante findet sich zum Beispiel die Frage „Stellen Sie sich vor, Ihr volljähriger Sohn kommt zu Ihnen und erklärt, er sei homosexuell und möchte gerne mit einem anderen Mann zusammenleben. Wie reagieren Sie?“ Die Idee, dass man damit irgendeine Gesinnung oder Zustimmung zu einer Werteordnung zweifelsfrei ermitteln könne, halte ich für ausgesprochen naiv. Wer wertet das aus? Und auf welcher Grundlage? Was bedeutet eine Antwort wie „Er wäre nicht mehr mein Sohn!“? Teilt man damit unsere Werte oder nicht? Wie viele Fragen zu welchen Themen muss man wie beantworten um dann in welcher Kategorie zu landen?
Man könnte das Ganze mal einen Abend lang mit Familie und Freunden als Gesellschaftsspiel machen. Die Ergebnisse wären vermutlich beeindruckend. Ich bin mir sehr sicher, dass bei den meisten mehr schockierendes zu Tage treten würde als man in seinem gesamten Leben im Umgang mit Migranten erleben wird. Weil unsere Gedanken und Ansichten etwas völlig anderes sind als unser Verhalten.
Welche Rolle spielen unsere Werte?
Es scheint bei nicht wenigen ein grundlegendes Missverständnis davon zu geben, was eine Demokratie ausmacht. Das ist nämlich gerade keine bestimmte Gesinnung oder ein bestimmtes Wertesystem ihrer Bürger. Man kann der Ansicht sein, dass Frauen dem Mann Untertan sein sollen. Man kann Menschen mit anderer Hautfarbe für minderwertigen Dreck halten. Man kann jeden noch so abartigen, undemokratischen, rückwärtsgewandten und unmoralischen Mist glauben. Aber solange man das nicht in Handlungen umsetzt, die unseren Gesetze verletzen, ist das für den demokratischen Staat kein Problem und darf auch keines sein. Ein Problem ist das nur für eine Diktatur, denn nur hier kennt man „Gedankenverbrechen“. Und von nichts anderem sprechen wir hier. Ein demokratischer Rechtsstaat verlangt von seinen Bürgern, sich an seine Gesetze zu halten. Keine Werte, keine Ansichten, keine bestimmten Gedanken. Diese zur Basis dafür zu machen, wer Bürger werden darf, wäre eine groteske Verdrehung dieses Prinzips. Wer gegen Gesetze verstoßen hat, der muss die juristischen Konsequenzen dafür tragen. Das gilt für deutsche Bürger genauso wie für diejenigen, die welche werden wollen. Das ist jetzt schon so und daran muss man nichts ändern. Aber Gedankenverbrechen spielen dafür keine Rolle.
Das bedeutet nicht, dass Ansichten und Werte egal und unproblematisch wären. Aber die Auseinandersetzung damit ist keine Frage von juristischen Konsequenzen, sondern eine Frage von gesellschaftlichen Debatten. Wir können (und sollen, ja vermutlich sogar müssen) mit Menschen streiten, die Werte und Sichtweisen vertreten, die wir nicht teilen. Aber alle darüber hinaus darf keine Option sein.
Das zu vergessen stellt unsere Werte viel drastischer in Frage als das, was wir an Einstellungen bei denjenigen vermuten, die überwiegend vor Unterdrückung, Krieg und Armut fliehen.