Wir dachten, „es“ käme nie mehr wieder. Wir dachten, „es“ sei Geschichte, die man nie mehr vergessen dürfe. Aber es gibt Menschen, die meinen, wir erlebten eine „Mahnmahlinvasion“ und dass endlich „einmal Ruhe sein müsse“.
Von Wien aus sind es gerade einmal 72 Kilometer bis zur ungarischen Grenze und 243 Kilometer bis nach Budapest. 243 Kilometer bis ins Machtzentrum des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban. Mit seiner Fidesz-Partei hält er eine Zweidrittelmehrheit im Abgeordnetenhaus. Es war nicht zuletzt seine starke Polemik gegen die Bevölkerungsgruppe der Roma und gegen Juden, die ihm zu diesem Wahlerfolg verholfen hat. Dabei unterstützt wird er von der rechtsradikalen Partei Jobbik, deren Vertreter sich nicht scheuen, wahre Hetzreden gegen besagte Bevölkerungsgruppen anzustimmen. Christoph Marthaler zeigt mit seiner Theaterproduktion „Letzte Tage. Ein Vorabend“, wie sehr die Polemiken der politischen Elite in unserem Nachbarland in fatalster Art und Weise an jene Wortmeldungen erinnern, die am „Vorabend“ zum Ersten Weltkrieg im historischen Sitzungssaal des Parlamentes in Wien zu hören waren. Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts avancierte der Antisemitismus zum politischen Spielkapital, das von einflussreichen Köpfen, wie Karl Lueger einer war, bewusst eingesetzt wurde.
Christoph Marthalers „Letzte Tage. Ein Vorabend“ im Parlament in Wien bei den Festwochen. (Photo: Walter Mair)
Kunst kann seinen Finger auf soziale und politische Wunden legen und das nicht nur im Nachhinein. Dort, wo Kunst auf sozio-kulturelle und politische Schieflagen unserer Zeit aufmerksam macht, wird sie zwar besonders angreifbar, zugleich aber auch besonders interessant. Die Wiener Festwochen koproduzierten mit dem Festival d´Automne à Paris, dem Théâtre de la Ville, Paris und der Staatsoper Unter den Linden in Berlin das Stück, das auf historischen Redevorlagen, aber auch Texten von ungarischen Politikern der letzten Monate basiert. Herausgekommen ist eine Marthaler`sche Collage mit starken musikalischen Anteilen, eindrucksvollen Bildern und unter die Haut gehenden Textpassagen. Für die Musik, die zum größten Teil von jüdischen Komponisten stammt, zeichnet Uli Fussenegger vom Klangforum Wien verantwortlich und liefert mit seinen fünf MusikerInnen dabei Qualität vom Allerfeinsten. Dabei reicht der Spannungsbogen von einfachen Wienerliedern bis hin zu einem Choral von Felix Mendelssohn-Bartholdy aus seinem Elias-Oratorium.
Marthaler verschränkt in seiner Arbeit mehrere Zeitebenen. Er greift nicht nur ans Ende des 19.Jahrhunderts zurück und lässt die antisemitische Rede Luegers in ruhigem Fließton verlesen, sondern er macht einen kurzen Stopp in der Jetztzeit. Da hat eine blonde, rechtsgesinnte Politikerin ihren großen Auftritt vor grellbunten Mikrofonen, über welche sie einem Schwarzen zu erklären versucht, dass er aufgrund seiner „gentechnischen Ausstattung“ an zu wenig Selbstbewusstsein leide. Dass er nach einer mit Hall verstärkten Jodeleinlage der Dame couragiert zurückjodelt, wird von seiner Widersacherin nicht einmal mehr wahrgenommen, längst hat sie die Bühne der Politikerpräsentation verlassen. Noch schlimmer jedoch gebärdet sich ein „skythonumerisch-etruskischer Hunne“, so die Rollenbezeichnung jenes Ungarn, der von einem Baugerüst aus eine Schimpftirade gegen die Roma ins Publikum schleudert. Der Publizist Gregor Mayer hat für diesen Text Stellen aus Reden von 6 ungarischen Politikern zusammengestellt, die teilweise derzeit im ungarischen Parlament vertreten sind. Hier muss gesagt werden, dass es Mayer und Marthaler mit dieser Passage in wenigen Minuten gelingt, tiefe Betroffenheit bei einem Teil des Publikums auszulösen. Eine Betroffenheit, die tatsächlich nur das Theater erzeugen kann. Das geschriebene Wort in der Zeitung und auch nicht Berichte in den Nachrichten schaffen eine ähnliche emotionale Anteilnahme. Man weiß, dass man in einer Theaterproduktion sitzt, und findet das Gesagte nur grotesk. Zugleich aber wird einem bewusst, dass diese Polemik Millionen von Menschen beeinflusst und den Boden für Repressalien bereitet, die man sich nicht ausdenken mag. Zigeuner seien Tiere, ist in dieser Schmähdeklamation zu hören, sie seien antisoziale Volkselemente. Und abermals ist es eine leise Stimme, die diese grauenhaften Ansichten verbreitet und dafür von den in den Abgeordnetenrängen sitzenden Männern und Frauen – sind es Menschen aus dem Volk oder sogar VolksvertreterInnen? – gemurmelte Zustimmung erfährt.
Kurz nach Beginn der Vorstellung durfte man noch über die Rede eines Volksvertreters, angesiedelt 200 Jahre nach den Befreiungen aus den Konzentrationslagern, lachen. Darin feierte er aber nicht diesen Gedenktag, sondern dass der Antisemitismus endlich zum UNESCO Kulturerbe erklärt wurde und die europäische Demokratie zur Unterhaltungsabteilung der chinesischen Wirtschaft avancierte. Er sprach davon, dass es nun einer „neuen Demokratie“ bedürfe, einer, die keine Opposition mehr brauche. Nach der ethnienfeindlichen Tirade des ungarischen Politikers jedoch bleibt einem noch im Nachhinein das Lachen angesichts dieser absurden Zukunftsvision ganz tief im Hals stecken. Marthaler gelingt es, durch seine unterschiedlichen Zeitverschränkungen ein so düsteres Zukunftsbild aufzubauen, dass die bedrohlichen Schatten dieser Zukunft sich wie Blei auf unser Heute legen. Einer seiner Protagonisten spricht von „einem merkwürdigen Zustand, wenn es weder zurück noch vorwärts geht und das Jetzt unerträglich wird“ und charakterisiert damit auf den Punkt gebracht das heutige Lebensgefühl vieler Mitmenschen. Da passt auch jene Passage, in welcher die SchauspielerInnen wortlos entweder alleine oder zu zweit auf den Abgeordnetenplätzen Platz nehmen von der Bildmetapher her gut dazu. Verstörende Gesten schaffen Distanz zu den anderen, Kommunikation bleibt im Austausch von Blicken stecken. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind es ganz unterschiedliche Assoziationsketten, welche die ZuseherInnen während dieser Szene entwickeln. Szenen dieser Art sind es aber gerade, welche das Handlungsgeschehen unterbrechen und ihm einen poetischen Freiraum entgegensetzen.
Das Spiel mit dem Spiel wird in dieser Produktion ebenfalls thematisiert, wenn eine japanische Besuchergruppe durch die Glastüren vom Wandelgang her auf das Publikum blickt und dieses heftig zu fotografieren beginnt. Diese Doppelbödigkeit, bei der das Schauspiel von einem zweiten überlagert wird, zeigt gut auf, wie leicht die Wahrnehmung von Menschen beeinflusst werden kann. Was gerade noch wichtig war, wird durch neue Impulse und Reize völlig verdrängt und wer meint, immer den Überblick über ein Geschehen zu bewahren, erinnere sich an diese Szene.
Wie eine Klammer umfasst das Schlussbild den gesamten Abend. Hintereinander, in Reih und Glied, mit leicht gesenkten Köpfen, schreitet das Ensemble zu einem Mendelssohn-Bartholdy Choral die Empore entlang. Mit den Worten „Wer bis an das Ende beharrt wird selig“ erinnert das Grüppchen an jüdische Gefangene in den Konzentrationslagern, wobei gerade die Hoffnung, die in dieser kurzen Zeile noch durchschimmert, längst von den tragischen Geschehnissen überholt wurde. „Wir leben auf Hoffnung“ ließ Heinrich Böll eine seiner Figuren in seiner Erzählung „Der Zug war pünktlich“ sagen – so wie man sagt, „wir leben auf Pump“. Und dennoch ist es gerade das Phänomen Hoffnung, das nicht erlöschen darf, aber auch nur dann legitim ist, wenn neben der Hoffnung Taten unser Sein begleiten, die diese Hoffnung auch rechtfertigen.
Wir dürfen nicht denken, „es“ käme nie mehr wieder. Wir dürfen nicht denken, dass „es“ für alle Menschen Geschichte sei, die man nie mehr vergessen dürfe. Und Menschen, die meinen, wir erlebten eine „Mahnmahlinvasion“ und dass endlich „einmal Ruhe sein müsse“ dürfen nicht mehr widerspruchslos diese Leid missachtenden Allgemeinplätze von sich geben. Marthaler macht uns das an diesem Abend, der nicht der Unterhaltung dient, klar. Das ist nicht nur brillantes Theater, sondern viel mehr; das ist ein politisches Statement von allergrößter Dringlichkeit.