Die Automobilmachung Chinas

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Der Automobilabsatz in China boomt. Kann der Automarkt dieses bevölkerungsreichsten Landes der Welt die globale Autoindustrie tatsächlich längerfristig aus der Krise führen?

Im vergangenen August ereignete sich auf der chinesischen Expressroute 109 zwischen Peking und der Inneren Mongolei ein monströses Schauspiel, das ähnlich der Chinesischen Mauer wohl auch vom Weltraum beobachtet werden konnte. Es müssen wohl Hunderttausende von LKW- und Autofahrern gewesen sein, die aufgrund von Bauarbeiten in dem bislang längsten Autostau der chinesischen Geschichte festsaßen, der sich erst nach mehreren Wochen auflöste. Die gigantische Blechlawine erreichte stellenweise eine Länge von mehr als 100 Kilometern, bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von einem Kilometer am Tag. Das chinesische Fernsehen zeigte Bilder von Kartenspielenden Truckern und von Autofahrern, die ein Schläfchen auf dem von der Sommersonne aufgewärmten Asphalt hielten. Laut chinesischen Medienberichten habe die Masse der betroffenen Autofahrer diese wochenlange Warterei mit beeindruckendem Gleichmut ertragen. Empört gaben sich die meisten Teilnehmer dieses historischen Ereignisses aber vor allem gegenüber den Anwohnern der umliegenden Dörfer, die auf ihren Fahrrädern die Insassen dieses Mega-Staus mit überteuerten Fertiggerichten und Getränken versorgten.
Die Autofahrer im Reich der Mitte werden sich auch künftig auf solche Dauerstaus einstellen müssen, schreitet doch der Ausbau der chinesischen Autoindustrie weiterhin ungebremst voran. Zuletzt kündigten beispielsweise Ford und Nissan den Ausbau ihrer Fertigungsstätten in China an. Der amerikanische Autobauer Ford kündigte Ende September an, in Kooperation mit Mazda und dem chinesischen Hersteller Changan ein weiteres Motorenwerk in China errichten zu wollen, dass die Drei an diesem Joint Venture beteiligten Hersteller ab 2013 in die Lage versetzen wird, jährlich 750.000 Automotoren auszuliefern. Nissan wiederum investiert umgerechnet 115 Millionen Euro in den Aufbau eines neuen Fertigungsstandorts in der ostchinesischen Provinz Henan. Im Rahmen einer umfassenden Investitionsoffensive will der japanische Autobauer ab 2012 seine jährlichen Fertigungskapazitäten in der Volksrepublik von derzeit 670.000 Personenkraftwagen auf 1,2 Millionen Einheiten erhöhen.

Der Boom

Dieser umfassenden Investitionsvorhaben liegen ganz im Trend des irrwitzigen Wachstumstempos, dass der chinesische Automobilmarkt seit Jahren an den Tag legt. In 2009 steigerte China seine Autoproduktion gegenüber dem Vorjahr um ca. 3,5 Millionen Einheiten auf 13,8 Millionen Kraftfahrzeuge. Damit ist die Volksrepublik mit weitem Abstand - vor Japan, den USA und Deutschland - der größte Fahrzeughersteller der Welt. In Japan wurden in 2009 rund 7,9, in den USA 5,7 und in der BRD 5,2 Millionen Autos fabriziert. Vor 10 Jahren wurden in China nur 1,2 Millionen Kraftfahrzeuge hergestellt, sodass dieser Industriesektor seine Produktion binnen einer Dekade tatsächlich mehr als verzehnfachen konnte! Zwischen 2002 und 2007 wuchs der chinesische Automarkt mit einem Durchschnittswert von 21 % weitaus schneller als das Gesamte Bruttoinlandsprodukt (BIP), weswegen diesem Sektor zurecht die Funktion einer chinesischen Konjunkturlokomotive zugesprochen werden kann. Dabei handelt es sich im zunehmenden Maßen um ein chinesisches Phänomen: Inzwischen werden nahezu 35 % aller in der Volksrepublik hergestellten Fahrzeuge von chinesischen Automobilkonzernen fabriziert, während die restlichen Autos in Joint Ventures zwischen chinesischen und europäischen, amerikanischen oder japanischen Herstellern gefertigt werden müssen, bei denen die chinesischen Partner zumeist die Hälfte der Anteile halten. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch, dass ein Großteil dieser Fahrzeugproduktion in China verbleibt, da im vergangenen Jahr nur knapp 370.000 in der Volksrepublik gefertigte Autos exportiert wurden. Die „Werkstatt der Welt“ führt kaum Autos aus!

An Gigantomanie grenzen die weiteren Regierungsprognosen für den chinesischen Automarkt, die davon ausgehen, dass die derzeit 86 Millionen Fahrzeuge umfassende Blechflut auf Chinas Straßen bis 2020 auf 200 Millionen Autos anschwellen wird. In diesem Jahr sollen gar 15 Millionen Kraftfahrzeuge in der Volksrepublik die Fließbänder verlassen. Die Beratungsfirma McKinsey prognostiziert sogar, dass sich die Anzahl der Fahrzeuge in China zwischen 2005 und 2030 verzehnfachen wird, wodurch der Treibstoffverbrauch der Volksrepublik von 110 Millionen Tonnen auf 500 Millionen Tonnen ansteigen würde.

Es verwundert somit nicht, dass dieses ökologische Katastrophenszenario von der kriselnden Automobilindustrie der Industrieländer als die Heraufkunft eines neuen „Goldenen Zeitalters“ sehnlichst erwartet wird, in dem riesige neue Absatzmärkte in Schwellenländern erobert würden. Die Nachfrage der dünnen Mittelschicht in China und weiteren Schwellenländern - wie Indien oder Brasilien – soll die Nachfrageeinbrüche auf den gesättigten Märkten der Industriestaaten ausgleichen und sogar überkompensieren. Ende September drohte Mercedes-Chef Zetsche mit einer Verdopplung des weltweiten Bestands an Kraftfahrzeugen auf 1,8 Milliarden Autos im Jahr 2035. Die Stagnation auf ihren Heimatmärkten treibt die Fahrzeughersteller der Industrieländer zu dieser halsbrecherischen Expansion in China - und in Ansätzen auch in Indien. China scheint zumindest gegenwärtig der globalen Automobilindustrie tatsächlich eine Art „Zweiten Frühling“ zu bescheren.

Parallelen zum deutschen Wirtschaftswunder?

Deutsche Manager ziehen hierbei unweigerlich Parallelen zu dem Nachkriegsaufschwung in der BRD: „Der Stand der Motorisierung entspricht dem Deutschlands im Jahr 1956“, erklärte beispielsweise Torsten Knaussmann, Produktionschef von Shanghai Volkswagen. Oberflächlich betrachtet scheint sich in China ja tatsächlich ein ähnliches „Wirtschaftswunder“ abzuspielen, wie es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nahezu alle Industrieländer in den Zentren des Kapitalistischen Weltsystems erfasst hat. In dieser stürmischen Wachstumsphase der 50er und 60er Jahre, die von dem Krisentheoretiker Robert kurz als „Automobilmachung der Gesellschaft“ bezeichnet wurde, konnte ein von der Autoindustrie ausgehender fundamentaler Transformationsprozess der Industrieländer für überdurchschnittliche Wachstumsraten und Vollbeschäftigung sorgen.

Neben der massenhaften Schaffung von Arbeitsplätzen, die in der rasch in neue Märkte expandierenden Autoindustrie entstanden, fand eben auch der arbeitsintensive Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur statt, bei der Städte mit Parkplatzwüsten überzogen, ein Tankstellen-, Reparaturwerkstätten- und Autoverkäufernetz aufgebaut und Fernverkehrswege errichtet wurden. Die eine dominierende Stellung erringende Autoindustrie formte sich die Gesellschaft nach ihrem eigenen Ebenbild. Hinzu kam, dass die damals neuartigen Methoden der Produktion und vor allem Arbeitsorganisation, die in der Autoindustrie entwickelt worden, auf andere Wirtschaftszweige übertragen wurden. Hierunter sind vor allem die technologischen Innovationen des Fordismus und die Umwälzung der Arbeitsorganisation durch das Taylor-System zu verstehen. Durch den Einsatz von Fließbändern und die sekundengenau vorgegebenen Arbeitsabläufe bei der Warenfertigung konnten zuerst bei der Autofertigung – später auch in anderen Wirtschaftszweigen – derartig hohe Produktivitätsfortschritte und Mehrwertsteigerungen erzielt werden, dass den in der Produktion effektivst ausgebeuteten Menschenmassen erhebliche Lohnsteigerungen gewährt werden konnten, ohne die Profitrate der Unternehmen signifikant zu senken. Die Arbeiter in den Autofabriken wurden somit zu den besten Kunden der Autoindustrie.

Chinesische Autoarbeiter kaufen keine Autos

Bislang reicht aber gerade das Lohniveau des chinesischen Industrieproletarier bei Weitem nicht aus, um eben auch als Konsumenten der selbst hergestellten Warenfülle zu fungieren. Trotz teilweise erheblicher Lohnsteigerungen in den letzten Monaten kann die chinesische Arbeiterschaft nicht zu der wachsenden Mittelschicht aufschließen, deren Einkommenszuwächse derzeit hauptsächlich für die Steigerungen der Binnennachfrage in China verantwortlich sind. So streiken beispielsweise Mitte Mai die Arbeiter bei dem chinesischen Autozulieferer Denso, um eine Erhöhung ihrer Löhne von 123 auf 215 € durchzusetzen. Bei diesen Hungerlöhnen fällt selbstverständlich ein Großteil der Arbeiterschaft als Abnehmer von Autos oder langlebigen Konsumgütern aus. Zudem herrscht zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein weitaus höheres Produktivitätsniveau als vor 50 Jahren, bei dem die industriellen Produktionsprozesse weitgehend automatisiert worden. Die arbeitsintensive Waren- und Autoproduktion in China kann also nur solange mit massenhaftem Arbeitseinsatz aufrecht erhalten werden, wie dessen Anwendung billiger bleibt als die weitgehend automatisierte und ungeheuer kapitalintensive Produktion in den kapitalistischen Kernländern. Im Endeffekt konkurriert nicht nur beim Autobau der chinesische Fließbandarbeiter mit den Industrierobotern in Deutschland oder Japan – und diesen Konkurrenzkampf kann er nur gewinnen, wenn seinen Lohn niedrig genug bleibt. Aufgrund dieses höheren allgemeinen Produktivitätsniveaus ist es sehr unwahrscheinlich, dass Chinas Arbeiterschaft Lohnerhöhungen in dem Ausmaß erkämpfen kann, dass sie in die Lange versetzen würde, an das Konsumniveau der chinesischen Mittelschicht anzuknüpfen. Die steigenden Arbeitskosten würden die arbeitsintensive Produktion entweder unrentabel machen, oder die Industrie zu Rationalisierungsmaßnahmen nötigen. Der Fahrzeugbau kann folglich in der Volksrepublik nicht mehr die Rolle einer „Schlüsselindustrie“ einnehmen.

Die chinesische Mittelschicht - die sich hauptsächlich aus städtischen Angestellten und Selbstständigen mit akademischer Ausbildung rekrutiert – umfasst unterschiedlichen Schätzungen zufolgen zwischen 150 und 300 Millionen Menschen. Laut einem Bericht der Weltbank umfasst die Mittelklasse in China nur 23 % der Bevölkerung - bei allerdings stark steigender Tendenz. Diese maximal 300 Millionen Menschen bilden den eigentlichen Absatzmarkt der Autoindustrie, die restliche Milliarde der Einwohner Chinas ist von der Teilhabe an dem Konsumrausch dieser Mittelklasse ausgeschlossen. Dabei ist das Verdienstniveau eines chinesischen Mittelschichtlers in Relation zu Europa mit beispielsweise einem Durchschnitt von 674 Euro im Großraum Beijing - wo inzwischen 40 % der Bevölkerung offiziell zur Mittelschicht gehören - sehr gering. Unter Berücksichtigung dieser rellen Einkommensverhältnisse schrumpft also der von der Autoindustrie anvisierte, scheinbar gigantische chinesische Binnenmarkt schnell auf ein Viertel seiner potentiellen Größe, wobei dessen tatsächliche Kaufkraft weit hinter dem in Europa, Japan oder den USA gängigen Niveau bleibt.

Überproduktionskrise am Horizont

Selbst wenn diese für chinesische Verhältnisse gut verdienende Schicht der Bevölkerung wie prognostiziert mit einem Prozent jährlich weiter wachsen sollte, droht der Autoindustrie in China bald eine Überproduktionskrise. Innerhalb der nächsten fünf Jahre sollen sich die jährlichen Produktionskapazitäten beim Fahrzeugbau im Reich der Mitte auf 30 Millionen Einheiten mehr als verdoppeln. Selbst wenn sich bis dahin die Mittelschicht Chinas auf 360 Millionen zahlungskräftige Kunden – also 28 % der Bevölkerung - erhöhen sollte, sind diese von der Automobilindustrie angestrebten Absatzmöglichkeiten nicht zu realisieren. Die jährlichen Produktionskapazitäten der Autoindustrie würden 2015 nahezu 10 % der Gesamtzahl der Mittelschicht erreichen, wobei bei dieser ja auch Familienmitglieder wie Kinder und Jugendliche miterfasst werden, die als Kunden nicht in Frage kommen. Hiernach dürfte auch in der chinesischen Automobilindustrie der Verdrängungswettbewerb einsetzen, bei dem Produktionskapazitäten wie Arbeitsplätze wieder vernichtet werden. Gerade die Rasanz, mit der viele Autohersteller in China neue Produktionskapazitäten schaffen, deutet auf die Heftigkeit der systemischen globalen Überproduktionskrise in dieser Branche hin.

Die enorme Absatzsteigerung auf den chinesischen Automarkt in der ersten Hälfte dieses Jahres resultierte aber auch aus den Konjunkturprogrammen, die der chinesische Staat zwecks Krisenbekämpfung aufgelegt hat. Hierbei wurden ähnlich dem deutschen Vorbild finanzielle Anreize für den Autokauf seitens des chinesischen Staates geschaffen. Nach dem Auslaufen dieser Konjunkturhilfen sanken in den folgenden Monaten tendenziell auch die Autoverkäufe spürbar. Der Autoboom in China dürfte also mittelfristig an seine Grenzen stoßen und auch die Träume der krisengeschüttelten Autoindustrie von der Eroberung gigantischer neuer Märkte zum Platzen bringen.


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