Die Armutsgefährdung, die von oben gewollt ist

Die Armutsgefährdung, die von oben gewollt ist Geringqualifizierte haben in dieser Republik selbstverständlich selbst schuld. Sie hätten sich ja nicht geringqualifizieren müssen. Wären sie halt einfach hochqualifiziert geworden. Dem wäre doch nichts im Wege gestanden. Jeder ist seines Glückes Schmied. So weit jedenfalls die Parole der gängigen Ökonomie. Seit Jahren hören wir sie. Wer nur will, der kann alles werden. Und wer hätte dann geputzt, geliefert, eingeräumt, kassiert, serviert und was sonst noch alles getan? Wer hätte gemacht, was Geringqualifizierte heute so treiben müssen, um sich über Wasser zu halten? Oder fielen solche Tätigkeiten einfach weg? Letzteres ist natürlich unvorstellbar. Denn Bessergestellte und Eliten brauchen und wollen natürlich ein Heer von Handlangern. Sie aber trotz der Unabwendbarkeit dieser Jobs mehr und mehr der Armutsgefahr auszusetzen, zeigt nur, was man von Menschen hält, »die es nicht geschafft haben«.

Natürlich ist Qualifikation und/oder Bildung etwas, was man sich im Idealfall zulegen sollte. Nur funktioniert das Leben nicht für alle Menschen gleichermaßen reibungslos. Vielen wird dieser Glücksfall daher nicht zuteil. Sie verpassen ihn. Manche vielleicht selbstverschuldet. Andere erliegen äußeren Zwängen. Und dann kommt es für diese Leute darauf an, das Beste aus ihrem Leben herauszuholen, sich möglichst teuer am Arbeitsmarkt zu verkaufen. Der letzte Satz klingt wirklich abartig. Aber so sagt man das heute. Man prostituiert sich. Das tat man natürlich immer. Nur gab es vielleicht früher vor der Leistung von Werktätigen mehr Respekt als heute, sodass man das Hurenhafte nicht so schamlos sprachlich zur Geltung brachte. So oder so: Sie nehmen also Jobs an, die schlecht bezahlt werden, keine Chancen zum Aufstieg gewähren und gesellschaftlich nicht besonders geachtet werden. Einer muss das ja erledigen. Und da trifft es halt Menschen, die wir als geringqualifiziert bezeichnen.
Man hat es seit Jahren politisch zugelassen, dass sie mehr denn je abrutschen können. Dass sie die Boden unter ihren Füßen verlieren können, obgleich sie arbeiten. Ständig sind sie von Arbeitslosigkeit bedroht. Minijobs ersetzen ihre ehemaligen Vollzeitstellen. Sie arbeiten auf einem Lohnniveau, das sich an Hartz IV orientiert, während das Pensum nicht selten anwächst, sodass auch diese Arbeitsmarktgruppe von Burnout und etwaigen Stress-Folgen betroffen ist und durch Krankheit ihre Arbeitsplätze riskiert. Ein laxer Gebrauch von Kündigungsschutzgesetzen erlaubte auch hier einen schnellen Austausch von geringqualifizierter Hilfsarbeitskraft. Auch das war und ist politische Agenda hierzulande. Der produktive Bodensatz soll eben austauschbar sein - man nennt diesen Umstand allerdings hübsch »Flexibilität«.
Wie man mit dieser Gruppe umging, zeigt doch nur, was keiner laut ausspricht, was aber tatsächlich Hintergedanke in diesem Land ist: »Geringqualifizierte, ihr hattet eure Chance! Pech gehabt. Jetzt leidet eben. Selbst schuld.« Das ist nicht nur selbstherrlich, es zeigt auch, dass die Eliten keinen Schimmer von gesamtgesellschaftlichen Prozessen haben. Denn selbst wenn es gelänge, Geringqualifikation als Massenphänomen auszuschalten, jedermann höherwertig zu qualifizieren, fielen Stellen, die keinen hohen inhaltlichen Anspruch haben, nicht einfach weg. Sie sind schlicht nötig. Ganz und gar systemrelevant. Und so würden Höherqualifizierte tun, was heute Geringqualifizierte leisten. Sie wären trotz höheren Standards die neuen Geringqualifizierten. Die Hebung des allgemeinen Niveaus raubt der Arbeitsteilung ja nicht das »untere Ende« - und sie entfernt nebenher auch nicht den Dünkel, mit dem man »niederen Jobs« begegnet.

Mensch, was war man da trotz allem im Sozialismus weiter. Da hatte man erkannt, dass es Jobs innerhalb einer arbeitsteiligen Gesellschaft gibt, die zwar nicht besonders schön sind, aber notwendig. Und wie notwendig sogar! Also hat man sie gewürdigt und anständig entlohnt. Ob das dann letztlich ökonomisch richtig war, ist gar nicht das Thema. Keiner verlangt ja, dass ein Kurier besser bezahlt sein sollte, als der Direktor einer Sparkasse. Aber leben sollte er doch davon können. Ohne Zubrot von der Behörde. Und vor allem ohne Angst, bereits am morgigen Tag am Ende der eigenen Liquidität angelangt zu sein. Wer von seiner Arbeit leben kann, der darf getrost über den Dünkel der Gesellschaft lachen und denen zuprosten, die mit blanker Verachtung sprechen. Das fällt dann garantiert leichter. Geld stinkt nicht.
»Geringqualifiziert« ist ohnehin so ein moralischer Ausdruck. Er beinhaltet ja Gegensätze wie Schlecht und Gut oder eben wie Gering und Hoch. Dabei sagen die Herren der Ökonomie uns ständig, dass der Markt gar nicht moralisch agieren könne. Dazu sei er nicht geschaffen. So besehen dürfte es solche Begriffe gar nicht geben, denn der Markt benötigt eben Lieferanten und Putzfrauen. Die machen Tätigkeiten, die es nun mal gibt, wenn man sich die Arbeit gesellschaftlich aufgeteilt hat. Das ist insofern nicht gut oder schlecht. Es ist. Punkt. Das muss man ganz ontologisch betrachten. Es ist zu machen, zu erledigen. Genauso wie all die tollen, gut dotierten, angesehenen Berufe, die man auf der anderen Seite so haben kann.
Es gibt also kein moralisches Anrecht darauf, etwaige Stellen für so genannte Geringqualifizierte schlecht zu bezahlen, die Menschen, die diese Arbeit verrichten, an den Rand der Armut zu befördern. Wer das glaubt, der folgt einer falschen ökonomischen Moral - und das beweist wiederum, dass diese Ökonomie eben doch nicht so morallos ist, wie sie stolz vorgibt. Sie ist hochgradig moralisch - im Sinne von Herrenmoral und Snobismus. Die Armutsgefährdung der unteren Arbeitsmarktschichten ist kein Zufall, keine Unabwendbarkeit und von den Märkten bestimmte Notwendigkeit: Sie ist gewollt, elitär begründet und Ausdruck einer gesellschaftlichen Schieflage. Was wären denn all diesen hoch angesehenen Dreckspatzen ohne die Reinigungskräfte, die sie gut aussehen lassen?
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