Die Armut ist greifbar

Von Lesenblog

Sabine Krüger/Heinrich Kuhn “Armutszeugnisse – West-Berlin vor der Stadterneuerung in den sechziger Jahren”, 112 Seiten, 29,95 €, Edition Braus, ISBN: 978-3862280896;

In meiner Jugend, in den 80er Jahren galt Berlin als megacool. Viele billige Wohnungen, Altbauten unsaniert und Neubauten mit Komfort. Dass dies – vor allem die Neubauten – Ergebnis eines großen Plans waren, der vor über 50 Jahren vom damaligen Regierenden Bürgermeister Willy Brandt ausgedacht wurde, war mir neu, bis zu diesem Buch.

Im Auftrag des Berliner Senats war der Fotograf Heinrich Kuhn Anfang der 1960er Jahre in Westberlin unterwegs und dokumentierte jene alten Häuser, die im Zuge des Stadtumbaus abgerissen werden sollten. Kuhn ging es allerdings um mehr als die Gebäude, er setzte auch den Bewohnern dieser Wohnungen eine Erinnerung, wie sie dort unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen hausen mussten.

Seit 1877 ist Berlin Millionenstadt. Diese vielen Menschen unterzubringen war schon die Jahrhunderte vorher eine große Aufgabe. Der Begriff Mieskaserne, geprägt im 19. Jahrhundert, macht deutlich, dass es um ein Dach über dem Kopf ging, nicht um Komfort. Spekulation und Stadtplanung standen sich unversöhnlich gegenüber. Schon 1862 gab es erste Pläne, wie Berlin gebaut sein müsste, um vier Millionen Einwohner zu fassen.

Nach den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg war all dies Makulatur. 90 Millionen Kubikmeter Schutt mussten beseitigt werden, Wohnungen fehlten. Bis 1964 gab es immerhin schon wieder 900.000 Wohnungen, mehr als ein Drittel davon hatten kein Bad und fast 200.000 keine Toilette. Diese Wohnungen waren’s, die Willy Brandt mit seinem Stadtumbau in der 2,2-Millionen-Einwohner-Stadt ersetzen wollte.

Die Bilder Kuhns aus Charlottenburg, Spandau und Schöneberg sind erschütternd. Es sieht aus wie in manchen Fotostrecken von halbzerstörten Bürgerkriegsstädten in der ehemaligen Sowjetunion. Heruntergekommen, arm, eng  sind die Wohnungen, die die Fotos zeigen. Schwarzweiß-Fotos, die nach Krieg aussehen, aber andersherum betrachtet vor allem dokumentieren, wie weit wir in den vergangenen 50 Jahren in Deutschland gekommen sind.