Die Arbeitslüge


“Einerseits verteidigen immer mehr Menschen die Grundsätze unserer Demokratie. Andererseits steht die Kanzlerin so hoch in der Gunst ihres Volkes wie lange nicht. Eine Technokratin, die nicht regiert und trotzdem etwas damit zu tun haben muss, dass die Zahl derer stetig steigt, die von ihrer Arbeit nicht mehr angemessen leben können.

Als ich neulich auf der  Wuppertaler Hardt eine Fahne der Piraten wehen sah, erwähnte mein Sohn die wohl nachhaltigste Leistung dieser jungen Partei – die Stärkung des Etablissements. Folgt man diesem Gedanken, können aufstrebende Kräfte für die Etablierten Gefahr und Segen zugleich sein. Eine Gefahr sind sie dann, wenn sie die Aufmerksamkeit der Medien länger als drei Tage auf sich ziehen. Andererseits können sie den Mehrheitsparteien keinen größeren Dienst erweisen, als sich in Kleinmut zu verheddern.

Sowohl die erzkonservativen wie auch die Kräfte im Volk, die für eine Erneuerung der Gesellschaft stehen, sind Minderheiten. Was zwischen ihnen liegt, ist die Masse der Bewahrer und politisch Uninteressierten. Deshalb ringen beide
Pole um die Gunst der Gleichgültigen, die nie aus innerer Überzeugung handeln, sondern Ängsten oder persönlichen
Bedürfnissen folgen. Wie sonst hätte sich der Faschismus einst festsetzen können, wenn nicht die Besitzenden in ihrem Egoismus schreckliche Angst vor der bolschewistischen Revolution gehabt hätten?

Heute ist es nicht anders. Trotz drängender sozialer und ökologischer Probleme wollen die meisten Menschen festhalten an dem, was sie haben. Nirgendwo wird das offensichtlicher, als in der Angst vor Inflation oder in der Angst vor dem Verlust der sozialen Stellung. Es ist eine Grundregel der Statusangst, dass der Wettstreit um Positionen kein Ende hat – abgesehen von kurzzeitigen Aussetzern, wenn sich innerhalb einer Hierarchie gerade ein Sündenbock gefunden hat, dem man die Schuld für irgendetwas in die Schuhe schieben kann.

Diese Verlustangst mag eine Erklärung dafür sein, dass sich die Gleichgültigkeit immer weiter ausbreitet. Eine andere Ursache liegt darin, dass es in unserer komplexen Welt sehr schwer geworden ist, zwischen all den Einflüssen zu unterscheiden, denen wir ausgesetzt sind. Wir leben in Kreuz- und Querverbindungen, so dass wir oft nicht erkennen können, was oder wer der Stein des Anstoßes ist. „Um wahrzunehmen, dass es in dieser Welt auch unerträglich zugeht, muss man genau hinsehen schreibt Stéphane Hessel in seiner Streitschrift „Empört Euch!“. Aber auch diejenigen werden sich überfordert fühlen.

Im Dritten Reich richtete sich der Zorn des Widerstandes auf ein menschenverachtendes Regime. Das war einfach und klar. Heute wissen wir oft nicht, auf welchen Gegenstand wir unsere Empörung konzentrieren sollen. Auf einen Staat, der – ungeachtet der Menschenrechtskonvention – einem jungen Mann das Recht auf Staatsbürgerschaft entzieht? Oder auf eine Regierungschefin, die die Gewalt gegen Demonstranten in der Türkei „erschreckend“ nennt, während die Staatsgewalt in Frankfurt auf friedlich Demonstrierende eindrischt? Oder soll man zuvorderst erbost sein über den Zustand in deutschen Krankenhäusern, in denen Todkranke nicht mehr in Ruhe sterben dürfen?

Jeder hat sein eigenes Gedankenknäuel. Der Mensch kann – will er nicht verzweifeln – hier nur herausfinden, wenn in ihm etwas lebt, was einer dauerhaften Empörung standhält. Diese richtet sich in meinem Falle auf ein  Wirtschaftssystem, das die Welt als einen Ort der Arbeit sieht, in dem die Güter und Dienstleistungen zunehmend für den Selbsterhalt des Systems gebraucht werden. Das Produkt des Systems Arbeit ist Arbeit, egal ob sie sinnvoll ist, ob deren Ergebnis jemand vermissen würde. Marx sprach in diesem Zusammenhang von einer „Entfremdung“, bei der unsere Arbeitskraft und mit der Zeit auch unser Selbst zur käuflichen und verkäuflichen Ware verkommen. Das könnte eine Erklärung der um sich greifenden Gleichgültigkeit sein.

Deshalb wird am 22. September die Mehrheit nicht CDU oder SPD wählen, sondern das System Wirtschaftswachstum. Weil jeder weiß, dass jeder einen Job haben muss, akzeptiert auch jeder, dass der Motor des Systems stets auf Hochtouren laufen muss. Wer aber anfängt, nicht nur das Wachstumsdogma an sich, sondern auch dessen stärkstes politisches Schutzschild (Arbeitsplätze) in Frage zu stellen, wird nach Antworten suchen – und nach einer Regierung, die sich vorstellen kann, dass die Wirtschaftsgeschichte mit dem Modell der Sozialen Marktwirtschaft nicht geschlossen ist. Man muss kein Nerd sein, um den größten Wert der Piraten zu sehen: den Kratzer im Beton. Ich wünsche Ihnen erholsame Ferien.”

Quelle: E-THIKKER 08/13 – Ethikbank-Newsletter


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