Von Stefan Sasse
Aktuell finden in den USA die "Midterm-Elections" statt, also die Kongresswahlen, die nicht gleichzeitig mit den Wahlen des Präsidenten stattfinden, sondern zwischen zwei Präsidentschaftswahlen. Um zu verstehen, welche Bedeutung diese Wahlen haben und warum sie so regelmäßig stattfinden, dass sie ihren eigenen Begriff haben, muss man das US-Wahlsystem verstehen: der Kongress (also die US-Legislative) besteht aus zwei Kammern, dem House of Representatives (Repräsentantenhaus) und dem Senate (Senat). Die Repräsentanten, 435 an der Zahl, grob nach Bevölkerungsverhältnissen aus den Einzelstaaten zusammengesetzt, werden alle zwei Jahre neu gewählt. Die Wiederwahlquote liegt mit durchschnittlich 80% recht hoch; der Dauerwahlkampf, dem sie ausgesetzt sind, soll Volksnähe erzeugen. Anders die Senatoren, die erst seit 1913 überhaupt gewählt werden. Sie werden alle sechs Jahre neu gewählt, allerdings je ein Drittel alle zwei Jahre. Der Präsident wird alle vier Jahre neu gewählt. Durch den Turnus der Wahlen fallen stets die Hälfte der Wahlen entweder mit einer Präsidentschaftswahl zusammen oder eben dazwischen - in den "Midterm".
Da die Legislative in den USA von der Exekutive getrennt operiert, kann sich bei einer solchen Midterm-Election das Machtverhältnis deutlich ändern: ein Präsident, der - wie Obama - zuvor die Mehrheit in beiden oder einem Haus besaß und damit über vermutlich größeren Rückhalt verfügte als bei einem ihm "feindlich" gesinnten Haus (es gibt keinen Fraktionszwang, da die Exekutive auch ohne Legislative arbeiten kann!) kann sich nach der Hälfte seiner Amtszeit also jederzeit mit einer plötzlich radikal geänderten Mehrheit im Kongress abfinden müssen. Da die Legislative genau das kann, was ihr Name verspricht - Gesetze erlassen oder ändern - kann das für einen Präsidenten sehr unangenehm werden. Die Republikaner drohen ja auch unverholen, die Gesundheitsreform rückgängig zu machen, wenn sie die Mehrheit bekommen. Ganz so schlimm ist es natürlich nicht, denn dem Präsidenten steht das Veto zur Verfügung, das der Kongress nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit aufheben kann. Und die steht den Republikanern nicht ins Haus; vermutlich werden sie nicht einmal den Senat erobern können, sondern "nur" das Repräsentantenhaus.
Wer bis hierher gelesen hat, versteht auf jeden Fall schon einmal mehr von der Materie als die zuständigen Spiegel-Online-Redakteure. Die deklarieren die Midterm-Elections gleich zur "Volksabstimmung", was auch in Deutschland eine beliebte Metapher, aber dennoch sachlich falsch ist. Außerdem sind sie der Meinung, dass die Midterm-Elections der "sicherste Gradmesser für die Wiederwahl des Präsidenten" seien, was ebenfalls grober Unfug ist. Von den 1960er Jahren bis 1994 waren beide Häuser des Kongresses demokratisch dominiert, ohne dass dies die Wahlen und Wiederwahlen von republikanischen Präsidenten behindert hätte. Ronald Reagans Republikaner verloren 1982 bei den Midterm Elections deutlich, 1984 gewann der Präsident die Wiederwahl in einem Erdrutschsieg. Die Midterm Elections werden traditionell für eine Klatsche gegen den Präsidenten benutzt, wie hierzulande Landtagswahlen auch. Für das Ergebnis der dann folgenden Exekutiv-Wahlen sind die Legislativ-Wahlen nur äußerst unzuverlässige Gradmesser, besonders, da ja bei solchen Wahlen auch die landes- und kommunalpolitischen Themen eine ebenso starke Rolle spielen. Wir wollen uns deswegen nicht weiter mit diesem Unsinn aufhalten sondern stattdessen sehen, was eigentlich die Bedeutung der Midterms für Obama tatsächlich ist.
Der wahrscheinliche Verlust der Mehrheit im Repräsentantenhaus wird das Reformprojekt Obamas noch einmal deutlich behindern. Dies liegt allerdings nicht so sehr am Verlust der Mehrheit per se. Bill Clinton verlor bei den Midterms 1994 beide Häuser des Kongresses und regierte trotzdem recht erfolgreich bis 2000 mit einer republikanischen Mehrheit weiter. Dies ist möglich, weil in der amerikanischen politischen Tradition die Zusammenarbeit der beiden Parteien in der praktischen Politik eng verknüpft ist. Im Normalfall macht man sich gegenseitig eben Zugeständnisse, und dann stimmt der Kongress für die dann eben verwässerten Reformvorhaben. Das ist auch in Deutschland und anderen Demokratien Standard, obwohl der Eindruck immer ein anderer ist, da die Medien besonders gerne die Konflikte herausstreichen. Nur bei sehr kontroversen Themen - fünf, maximal zehn Prozent der Gesetzesvorhaben - kommt es zu ernsthaftem Streit. Nur wenige Phasen der Totalopposition sind bekannt, in Deutschland etwa 1969 bis 1971/72 und dann wieder 1996 bis 1998. Oftmals schadet Totalopposition der Opposition in den Augen des Wählers mehr.
Obama aber sieht sich mit einer solchen Totalopposition konfroniert. Nach seinem Wahlsieg machte er der republikanischen Partei das großzügige Angebot der "Bipartisanship" (Zweiparteilichkeit), also der gedeihlichen Zusammenarbeit, obwohl er in beiden Häusern die Mehrheit besaß. Vermutlich stand er unter Eindruck des Wahlkampfs gegen John McCain, der seine Anhänger in seiner Abschlusskundgebung nach Verkündung des Ergebnisses genau dazu aufgefordert hatte - und dafür ausgebuht worden war. Die liberalen Republikaner, durch McCain verkörpert, hatten in der Stunde der Wahlnacht ihren vorläufig letzten Atemzug getan. Die Radikalen, die der Überzeugung waren, dass man dem "Liberalen" Obama ("liberal "ist in den USA ohnehin ein Schimpfwort wie hierzulande "links" und ist auch eher sozialdemokratisch konnotiert) mit "amerikanischen Werten" entgegen treten müsse, gewannen unter der designierten Vizepräsidenten McCains, Sarah Palin, die Oberhand.
Seither haben diese extremen Republikaner die Meinungsführerschaft übernommen. Der ohnehin stets rechtlastige Sender FOX News hat sich mit dem Flaggschiff Glenn Beck einen wahren Hassprediger ins Haus geholt, dessen Kampagne zusammen und für Sarah Palin mit der großen "Ralley to restore Honor" in Washington ihren Abschluss fand. Die extremen Republikaner haben mächtige Verbündete: das große Geld fürchtet ein Zurückdrehen der unter Bush eingeführten Steuererleichterungen und eine stärkere Belastung ihrer Vermögen und Gewinne zugunsten der Allgemeinheit. Mit großen Spenden finanzieren sie die Rechten, die sich als "Tea Party"-Bewegung geschickt ur-amerikanischer Mythen bedienen. Wir erinnern uns, die Boston Tea Party 1773 war einer der entscheidenden Anstöße für die amerikanische Revolution, mit der man die Herrschaft Englands abschüttelte. Durchaus clever bedienen sich die Rechten dieser Tradition, um sich als Bewahrer des "echten Amerika" gegen Obama und seine "liberals" in Stellung zu bringen, die diese amerikanischen Werte verraten.
So ist es gelungen, gerade die hinter der Flagge der Tea-Party-Bewegung zu sammeln, die eigentlich von Obamas Programm profitieren würden - die Armen und Niedriglöhner, die sich keine eigene Krankenversicherung leisten können. Sie verteidigen aggressiv, teils mit dem Schnellfeuergewehr auf dem Rücken bei der Demo, die Steuerkürzungen von Reichen und unterstützen die Propaganda, dass es sich um sozialistische Enteignungen handelte, die jederzeit auch das eigene Haus treffen könnten. Die Tea-Party-Bewegung setzt sich glaubhaft an die Spitze der hart arbeitenden Bevölkerung des konservativen, ländlichen Amerika, das vor allem niedrige Steuern und ihre Waffen haben will und die dabei nicht bemerkt, wie sie von der Propaganda genutzt wird, um die Besitzstände der Reichen zu wahren.
Es ist diese extreme Rechte, die die Midterm Elections dominiert. Ihr Erfolg hat alle Republikaner nach rechts getrieben, selbst John McCain musste seine Rhetorik der Tea-Party-Bewegung anpassen um seinen Senatssitz zu verteidigen und verflucht wahrscheinlich inzwischen seine Idee, Sarah Palin zu seinem "running mate" zu machen. Nicht nur Demokraten müssen fürchten, ihre Sitze an Republikaner zu verlieren - viele Republikaner zittern außerdem um einen Putsch von rechts, dem sie mit einem eigenen Rechtsruck zuvorzukommen hoffen, einem Rechtsruck, den präventiv auch viele Demokraten in eher konservativen Gegenden nachvollziehen.
Für Obama ist das alles zwar unangenehm - aber nicht wirklich dramatisch. Denn auf eine Mehrheit im Kongress muss er sich für viele Dinge, besonders in der Außenpolitik, kaum stützen, sieht man einmal von der Ratifizierung völkerrechtlich bindender Verträge ab. Obama wusste, dass die Midterm Elections für ihn zum Problem werden würden. Viele der ambitionierten Projekte - Wallstreet-Gesetzgebung, Krankenversicherungsreform - sind bereits abgeschlossen. Seine Wiederwahl dürfte eher weniger gefährdet sein. Zwar sind viele seiner Wähler von 2008 schwer enttäuscht von ihm. Bei der geschürten Erwartungshaltung war dies allerdings auch klar. Die Radikalisierung der Republikaner könnte ihm im Hinblick auf 2012 sogar helfen: Viele Sympathisanten der Demokraten, die jetzt den Wahlurnen enttäuscht fernbleiben und die traditionell große Gruppe der Parteilosen, die jetzt eher den Republikanern zuneigt, dürfte 2012 wieder zu Obama gehen, wenn die Tea-Party-Bewegung bis dahin tatsächlich die Republikaner dominiert und den Kandidaten stellt. Obama wird dann nicht mehr wegen seiner Visionen und dem "change" gewählt werden, sondern aus Furcht vor dem radikalen backlash. Seine Chancen allerdings sind weiterhin gut, denn obwohl die radikalen Konservativen derzeit große Unterstützung aus dem Volk genießen - auch die liberal gesinnten Bürger lassen sich motivieren und mobilisieren, das haben die Wahlen 2008 ebenso bewiesen wie Jon Stewarts "Ralley to restore sanity" am Samstag, die er als Gegenaktion zur "Ralley to restore Honor" inszenierte und zu der über 250.000 Menschen kamen. Die Selbstheilungskräfte der amerikanischen Demokratie könnten also ein weiteres Mal wirksam werden; die Midterms sprechen sicher nicht das letzte Wort darüber, wer 2012 im Weißen Haus sitzen wird. Mein Tipp ist bereits jetzt: Obama.