Die Aldo-Moro-Entführung im Film

Von Zyw

BUONGIORNO, NOTTE (2003)

I.
In der aktuellen Ausgabe (Nr. 6 / 2010) des fabelhaften deutschen Medien- und Kultur, vor allem aber Filmmagazins Cargo findet sich ein ausführliches Gespräch mit Regisseur Marco Bellocchio. Dessen Film BUONGIORNO, NOTTO, der in Deutschland erst spät – und auch nur in wenige – Kinos kam, sei für sie, so die Cargo-Herausgeber und -Redakteure Bert Rebhandl und Simon Rothöhler, ein „Ereignis“, eine „intellektuell wie ästhetisch kühne Auseinandersetzung mit dem linken Terrorismus“ (S. 22) und das Startsignal, sich eingehender mit Bellocchios Werk zu beschäftigen (vgl. ebd.).
Tatsächlich ist BUONGIORNO, NOTTE (dt.: DER TAG, AN DEM DIE NACHT KAM) wohl einer der intelligentesten und anspruchsvollsten, zugleich aber nicht verkünstelten Filme zum Thema Terrorismus überhaupt, der vor allem seinen eigenen Standpunkt klug und seine Perspektive ungewöhnlich wählt.
Bellocchio berichtet in Cargo, dass er an der Art von Erzählung, wie sie IL CASO MORO bot, nicht interessiert war und zunächst einen Professor zur Hauptfigur machen wollte, der damals von den Kidnappern kontaktiert und zum Mittelsmann erkoren wurden, ehe ihm das zusammen mit Paola Tavella verfasste und 1988 erschiene Buch Il prigioniero („Der Gefangene“) der Rotbrigadistin und Moro-Mitentführerin Anna L. Braghetti in die Hände fiel.
Ausgehend von diesem entstand BUONGIORNO, NOTTE, der die Aldo-Moro-Entführung aus der begrenzten – und distanzierten, bis gar entrückten – Sicht der Revolutionärin Chiara (Maya Sansa) zeigt und einen radikalen Gegenentwurf zum Panoramabild IL CASO MORO und dem Gruselkrimi YEAR OF THE GUN mit seinem verunheimlichenden Blick von außen bietet.

II.
Mit ihrem „Ehemann“ Ernesto (Pier Giorgio Bellocchio, Sohn des Regisseurs) besichtigt und mietet die junge Chiara eine Wohnung, doch dass das Paar kein echtes ist, merkt man schnell. Zu wortlos und sachlich, jedoch nicht unfreundlich gehen sie miteinander um. Auch andere Männer finden sich ein, der Hüne Primo (Giovanni Calcagno), der Anführer Mariano (Luigi Lo Cascio); sie werkeln, zimmern und bauen, ansonsten aber nicht aufzufallen. Als die neugierige Nachbarin läutet, steckt sich Chiara, ehe sie die Tür öffnet, den Ehering an, der griffbereit auf der Kommode liegt.
Zunächst verlassen wir die kleine Wohnung nicht, das Apartment, in dem es die späten 1970er Jahre sind, wie uns Chiaras Pulli, die Fernsehbilder, die Frisuren eher unaufdringlich wissen lässt –, und ruhig, aber angespannt wartet Chiara. Dann, vor dem TV-Gerät, aufgeregt folgt sie den Nachrichten. Die Meldung vom Überfall auf Moro. Chiara jubelt über die Unheilsbotschaft.

Doch ehe ihre Genossen, mit der sie Politik geistig und die Aktion zusammenschnürt, den gefangenen Politiker in einer Holzkiste in die Wohnung und das neukonstruierte Geheimzimmer hinter der Bücherwand transportieren, eine Fantasiegestalt aus der irrealen unendlichen Ferne der Medien in die kleinbürgerliche Wirklichkeit herein, da läutet es an der Tür. Die Nachbarin muss weg, Chiara muss auf ihr Baby aufpassen – spricht’s, drückt der verdutzten Terroristin das Kind in den Arm und verschwindet. So liegt das Baby auf der Couch, als der konspirative Menschenraub vorerst beendet wird – und macht Chiara nicht zum letzten und unbehaglichsten Mal zur Mutter, Betreuerin, zur Hausfrau, Kümmernden und Verantwortlichen.
Politik ist hier nicht ihre Sache, auch wenn sie nicht apolitisch ist, wenn kein Zweifel an ihrer Entschlossenheit besteht. Sie ist überzeugt, von dem, was sie da tut, doch ins Versteckt, wo ihre Genossen – allen voran Mariano – den hageren Moro (Roberto Herlitzka) verhören, mit diskutieren, geht sie nicht oder nur mit vorsichtiger Führung. Von außen schaut sie zu, betrachtet Moro durch das Guckloch der Tür, von wo aus der sanfte ältere Gefangene sich immer mehr in ihre Träume schleicht…
III.
Es sind Überzeugte, aber keine Fanatiker, die Bellocchio in BUONGIORNO, NOTTE nicht vorführt, sondern zeigt, keine Besessenen wie in YEAR OF THE GUN, aber auch keine sachlichen, politischen Rationalisten wie bei Ferrara. Sie sind bedächtig und nervös zugleich, eine kleine Gruppe von Menschen, die den Staat belagern und zugleich selbst wie in einem Belagerungszustand verharren.
Ruhig, sanft und schön ist Maya Sansas Chiara, ihre Augen dunkel, tief und warm – auch die von Mariano, der dadurch in den Verhören mit Moro, gerade wegen der Ski-Maske, die uns auf die Augen fokussiert (wie das Mittäterschaft bezeugende, „maskierende“ Licht auf Chiaras Gesicht vor dem Verschlag), etwas verwundbares hat – wie überhaupt alle von einem Idealismus getrieben werden, dem sie still und ernst anhängen, weil ihnen sonst die Situationen zu entgleiten drohen würde. Das ist eine andere, unübliche Art, Terroristen zu zeigen: mit einem Verpflichtet-Sein und klarem Bewusstsein, das sich immer wieder dem Sinn und der Tatsächlichkeit der Situation vergewissern muss. Radikale, die mal mehr, mal weniger selbstbewusst und stumm ihre Aufgabe, Identität und Rechtmäßigkeit abtasten wie eine Zunge eine wunde Stelle im Mund.


Man sieht die Gardisten essen, schlafen; einmal bekommt einer einen Hüttenkoller, muss raus, seiner Freundin sehen, bekommt Schelte, natürlich. Später ist er dann wieder zurück. Erleichterung. Es sind auch nur Menschen, die da gemeinsam in der kleinen Wohnung sitzen, wo jeder abwechselnd Wache hält. Dunkel ist es in dieser Wohnung, und abends versammeln sie sich vor dem Fernseher, schauen, was da draußen, in der fernen anderen Wirklichkeit sich ereignet, die so gar nichts mit ihnen hier drinnen zu tun haben scheint. Sie bestaunen, wie sich in einer fremden Sphäre sich alles um sie und ihren Gefangenen dreht.

IV.
Das ist nun keine Verharmlosung des Linksterrorismus, weil es der Film zum einen ganz bei Chiara bleibt, zum anderen, weil die leichte, fast schwebende ästhetisch-gedankliche Reflexionen ihn zu mehr macht als einem bloßen Seelen- und Ereignisdrama.
Zum einen ist da die Parallelhandlung. Chiara hat einen Beruf, arbeitet in der Bibliothek eines Ministeriums, wo der junge Enzo (Paolo Briguglia) sich an die attraktive spröde Kollegin heranmacht. Romantisch ist er, unbekümmert, ein bisschen stürmisch und idealistisch – so wie sie nicht ist oder zumindest nur tief drin oder aber auf jeden Fall nicht äußerlich, wegen ihres Doppellebens, sein kann.

In einer bedrohlichen Szene wollen die Angestellten zum Dienstschluss mit dem Aufzug nach unten fahren, doch sobald sich die Türen öffnen, starren sie ins Innere, weichen erschrocken zurück. Mehrfach noch wiederholt sich das, in jedem Stockwerk. Lediglich Enzo, in Gedanken versunken, steigt ein. Im Erdgeschoss hat sich schon die Menge versammelt. Blickt auf ihn, der noch nicht bemerkt hat, dass er vor dem Brigadisten-Stern steht, den jemand rot, bedrohlich und irgendwie archaisch an die Wand des Fahrstuhls geschmiert hat. Aus der Masse heraus, beobachtet ihn auch Chiara, besonders brav und unauffällig.
Enzo fungiert ein wenig wie der heilige Narr - oder zumindest der Naive -, der nicht sieht, aber sehen lässt. Er erzählt Chiara von einem Drehbuch: Buongiorno, notte heißt es und handelt von einer Revolutionärin, einer von den Roten Brigaden. Ob Chiara es lesen will? Später diskutiert sie mit ihm über dieses andere, sein und ihr fiktives Ich. Auch bietet er sich an, sie auf eine Familienhochzeit zu begleiten, sich als ihr Freund auszugeben. Abseits sitzen sie im Gras, von Braut und Bräutigam, die sich fotografieren lassen, aber auch von der Festtafel, an der ein Partisanenlied angestimmt wird. Mit wenig Mühe und Aufwand sagt Bellocchio damit viel über das Selbstverständnis der Roten Brigaden aus, die sich doch als Nachfolger und Wiedergeburten der Widerstandskämpfer gegen des Faschismus sahen und gerierten – und sich doch nur isolieren konnten.

Es sind diese seltsamen mise en abymes und Spiegelungen, die das Traumhafte, Unwirkliche des Films neben der Ästhetik des Films ausmachen, vor allem aber aufladen. Bellocchio erklärt in Cargo: „Die Beleuchtung, das Licht kommt von außen. Aber alles ist im Inneren des Gefängnisses“ (S. 27). Nachdem er diese Grundeinstellung gefunden habe, habe er mit dem Filmkomponisten Riccardo Giagni daran gearbeitet, die passende Repertoiremusik zu finden: Verdi, Knaifel, Schubert – „[…] weil wir auf der Suche nach etwas waren, das dieses Gefühl des Deliriums, der Wahnvorstellung gab, dessen sich die Brigadisten ja nicht bewusst waren“ (ebd.).
Franz Schuberts Moments musicaux Opus 94 Nr.3 – „Air russe“ – begleitet aufreizend lebendig die Traumsequenzen und sonderbare Beziehung zwischen Chiara und „ihrem“ Moro, die vielleicht am Genauesten verdeutlichen, worum es in BUONGIORNO, NOTTE geht, wo das Rückgrat des Films liegt und zugleich Terrorismus als kollektiver politischer Wahn mit und an der immer ganz eigenen, nicht (mit-) teilbaren und doch logischen und klaren Phantasmagorie des Einzelnen kollabiert. Es ist eine mehrfach codierte, kleine Geschichte mit ihren Steigerungen, die Bellocchio dabei innerhalb der großen erzählt – und die den Film am weitesten Realität herausschneidet, um doch mehr über sie auszusagen, als diese es selbst über sich vermag; im doppelten Sinne: weil es um eine Traumwahrheit handelt und die Figur der Chiara als Verirrte von der realen Anna Laura Braghetti entfernt, die noch nach Moros Tod weiter an Morden der Roten Brigaden teilnahm.
V.
Des Nachts wacht Chiara, findet „ihre“ Männer schlafend, auch den Bewacher im Sessel, und die Tür zum Versteck leicht offen. Im Nachthemd schlüpft sie hinein – doch auch Moro schläft zusammengekauert, hat die Fluchtchance verpasst. In einer der nächsten Nächte besucht sie Moro, dass heißt: Der Gefangene betrachtet die schlafende Chiara, schaut, was sie liest, setzt sich in den Sessel, betrachtet sie. Sie erwacht, beide tauschen Blicke. Moro schüttelt den Kopf. Dann ist auch der neben ihr liegende Ernesto wach, doch hier wie sonst, verwischt Bellocchio die Grenzen von Wachen und Träumen (die schlafende Chiara in ihrem eigenen Traum), weniger auch von Unterbewusstem, von moralischem Wunsch und politischem Wollen und Müssen, von Schuld und Schuldigkeit, sondern eher von Wach- und Wirklichsein.

Noch ein Traum: Erneut steigt Moro aus seinem Kerker, schaut sich Bücher in dem Regal an, hinter dem er versteckt und gefangen gehalten wird. Chiara kommt zu ihm, führt ihn wortlos zur Eingangstür. Doch ein Blick durch den Türspion hält sie zurück: Draußen im Flur stehen und warten ruhig ein Schar Carabinieri. Hinter ihr wendet sich Moro traurig um, um wieder zurück in sein „Volksgefängnis“ zu verschwinden.
Schließlich der letzte, der große Traum, der Schluss des Films. Moro ist zum Tode „verurteilt“, die Männer am Tisch essen, Chiara schaut sie nur an, hat sich nun gänzlich von ihnen innerlich gelöst. Sie steht auf – und entriegelt Moros Zelle. Dann legt sie sich schlafen, fast eifrig schließt sie die Augen. In der Nacht – Primo schlummert mit der Waffe in der Hand in dem Sessel vor dem Versteck – kommt Moro hervor wie beschworen, zieht sich dabei seinen Mantel an. Vorbei an seinen Entführern verlässt er die Wohnung. Im herrlich grauen, regnerischen, ersten Morgenlicht geht er schwungvoll durch die Straße Roms, genießt die Luft, spaziert davon.
Und während Chiara immer noch schläft, holen still ihre Genossen Moro aus dem Loch, bringen ihn fort…

Wir wissen, wie die Fakten jenseits des Films „danach“ gewesen sind. Wir wissen jedoch nicht, ob Chiara wirklich die Tür geöffnet hat. Ob sie von Moros Flucht (die eben nur ohne sie geschehen kann) träumt, träumen will, weil sie ihn auf diese Weise wegzuzaubern hofft – oder sich aus der Verantwortung, dass sie sich drückt, es nicht miterleben muss, wie die politische Utopie und ihre kleine Häuslichkeit im Kleinen vorgeschafft wird, zur Hinrichtung? Letztlich aber: Was überhaupt (und welcher Art) war hier Traum, und welcher entstand aus bzw. führte zu welchem? Und ist es nicht tröstlich, zu tun, als kämen alle doch irgendwie davon, als sei letztlich niemandem etwas geschehen – als sei es wirklich so einfach und menschlich?
BUONGIORNO, NOTTE ist gerade in diesem Spiel nicht mit dem Kontrafaktischen, sondern mit der alternativen (oder gar erweiterten, vielleicht auch andersartig symbolpolitischen?) Realität ein außerordentlicher Terrorismusfilm gelungen, weil er die Brigadisten und vor allem Chiara nicht als Handlungs- und rationale Zweckfiguren veräußerlicht, wie sie bei Pontecorvo oder Costa-Gavras, in BATTAGLIA DI ALGERI (1966), OPERACIÓN OGRO (1979), ÉTAT DE SIEGE (1972) einen, sei es weltgeistigen, sei es tragischen, politisch-historischen Kampf führen oder wie in US-Actionfilmen, wo sie nur Schießbudenfiguren des (politisch-ideologischen) Anderen für die Helden abgeben.

Chiara ist eine seltene Figur, nicht nur weil sie Frau ist und bleiben darf (gar muss) statt zur fanatischen Furie zu verkommen, sondern weil ihre Zwiespältigkeit sich nicht auflösen lässt und dem Zuschauer nachhängt. Denn sie ist nicht einfach eine Mitläuferin, die plötzlich ihre Menschlichkeit entdeckt und die Individualität des Opfers, das sich nicht mehr länger auf einen Repräsentanten, d.h. ein Symbol und ein Ziel reduzieren lässt: Wie Norman Bates in PSYCHO (1960) die nackte Frau unter der Dusche, beobachtet Chiara den Gefangenen wie ein Voyeur, heimlich, durch ein Loch (bis dieser zurückschaut); sie macht ihm zum Objekt, zum Fetisch, ein Ding, das sie (wie die Terroristen) nie haben und deshalb auch nicht befreien kann (so wie es die Terroristen nicht „gebrauchen“, in eine erpresserische Währung restlos umwandeln können). Der Moro, der mit agilem Schritt davonkommt, ist und wird stets ein anderer sein, als der, der schwach und gebrechlich zur Exekution verbracht wird – und beide sind nicht echt, was zuletzt die Fernsehbilder der realen Moro-Beerdigung beweisen, die wie alle (historischen) TV-Ausschnitte die einzige Wirklichkeit in dem Film sind (oder das einzige, was von einer Wirklichkeit übrigbleibt).
Bellocchio macht mit BUONGIORNO, NOTTE deutlich, dass sich der Terrorist und der Menschen nicht im Guten wie im Schlechten auseinanderdividieren lassen. Auch und schon gar nicht im Schlaf, wo Träume nicht aufhören müssen (oder können) politisch zu sein.
Bernd Zywietz
Literatur:
Rebhandl, Bert / Rothöler, Simon (2010): Marco Bellocchio. Ein Gespräch mit dem italienischen Regisseur über sein Werk. (Mitarbeit: Ana Paulinyi). In: Cargo, Nr. 6, S. 22 – 34.