Die Aldo-Moro-Entführung im Film (1)

Von Zyw
IL CASO MORO (1986)
Einführung
Terrorismusfilme sind nicht auf ein Genre begrenzt. Sie können ebenso intime Dramen sein wie laute Actionreißer oder engagierte Politthriller. Wie groß die Bandbreite sein kann, davon geben vier Filme eine Ahnung, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven und zu verschiedenen „Zwecken“ – der Unterhaltung, der Kunst – einem Fall widmen, der zudem ein ganz realer war und ist: der Entführung und Ermordung des ehemaligen Premierministers und Vorsitzenden der italienischen Christdemokraten Aldo Moro im Jahr 1978 durch die linksrevolutionären Roten Brigaden.

Noch bis heute ist – wie überhaupt hinsichtlich des Terrorismus der Roten Brigaden – vieles noch unaufgeklärt oder undurchsichtig: die Verstrickung der nationalen und internationalen Geheimdienste und der Polizei, Politklüngeleien und Geheimverbünde auf höchster Ebene, verschwundene Beweise, Morde. Die Ausgangslage, die Moro für manchen zur Zielscheibe machte, ist jedoch recht eindeutig. Moro als Führer der Democrazia Christiana, der ehemaligen katholischen Volkspartei, war Nato-Kritiker und verfocht den „Historischen Kompromiss“, ein Bündnis mit der Kommunistischen Partei Italiens – was vielen in dieser Zeit des Kalten Krieges ein Dorn im Auge war und den linken wie rechten Ränder im Land weiter radikalisierten. Italien war ein Frontstaat, in dem sich nach dem zweiten Weltkrieg Alt- und Neufaschisten und etablierte Kommunisten, West und Ost ohne deutsch-deutsche Grenze und Berliner Mauer gegenüberstanden und die Furcht verbreiteten, das Land mal in die eine, mal in die andere Richtung kippen zu lassen.
Am 16. März wurde Moro auf dem Weg zu einer Sitzung in der Via Fani aus seinem Auto heraus entführt. Fünf Männer seines Begleitschutzes wurden dabei erschossen. Wie im Jahr zuvor in Deutschland im Falle Hanns-Martin Schleyers fanden schwarzweiße Bilder von Moro in seinem Volksgefängnis den Weg in die Öffentlichkeit, z.B. auf der Titelseite des Il Messagero, 17. März 1978: La foto di Moro nel carcere della brigate rosse. Ein Mann im Hemd, den Kragen offen, der Gesichtsausdruck erschöpft-fatalistischem oder aber fast lässig wirkend mit beinahe ironisch hochgezogenem Mundwinkel und dem etwas schräg gelegten Kopf. Hinter ihm eine Behelfsflagge, eckige Buchstaben darauf – BRIGATE ROSSE –, der fünfzackige eingekreiste Stern zwischen den Worten.
Die Brigadisten fordern die Freilassung von inhaftierten Genossen – fast die ganze Führungsriege, die erste Generation saß damals im Gefängnis. Moro schreibt Briefe in seiner Gefangenschaft, geht auch hart mit seinen Parteikollegen, darunter der schattenhafte Grandseigneur der italienischen Regierungspolitik Giulio Andreotti, ins Gericht. Doch während sich der Papst einschaltet, an die Menschlichkeit der Entführer appelliert und sich als Geisel anbietet, bleibt Andreotti hart. Es gibt kein Verhandeln, nur Großeinsätze der Sicherheitskräfte. Nach 55 Tagen wird Moro schließlich erschossen: Mit acht Kugeln „hingerichtet“ findet man ihm im Kofferraum eines roten Renaults in der römischen Via Michelangelo Caetani.
Il CASO MORO
Acht Jahre nach der Moro-Entführung drehte Giuseppe Ferrara IL CASO MORO nach dem investigativen Report Days of Wrath von Robert Katz. Ferrara hatte zuvor schon mit CENTO GIORNI A PALERMO (1984) einen nahezu klassischen Politthriller hingelegt – und dies war auch IL CASO MORO. Wobei „klassisch“ bedeutet, dass der Film wie Arbeiten Konstantin Costa-Gavras (z.B. ÉTAT DE SIEGE von 1972) oder aber Francesco Rosis LE MANI SULLA CITÀ (1963) nicht im eigentlichen, im hitchcock’schen Sinne „Thriller“ sind, insofern sie u.a. keiner Suspense-Dramaturgie folgen, sondern vielmehr den direkten Blick freigeben auf Hintergründe und Machenschaften, auf das Taktieren und Konspirieren. Entlarven und Aufklären steht bei ihnen im Vordergrund. Entsprechend gedreht ist auch IL CASO MORO: sachlich, nicht uneffektiv, jedoch unverkünstelt und auf den Punkt.

Moro wird gespielt von Gian Maria Volonté, ein bekanntes Gesicht des Genres. So spielte er 1971 den Bartolomeo Vanzetti in Giuliano Montaldos SACCO E VANZETTI über die beiden zu Märtyrern der Bewegung gewordenen Anarchisten in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts, er gab den Lucky Luciano in Francesco Rosis gleichnamigen Film von 1973 und hatte auch in Gillo Pontecorvos OPERACIÓN OGRO (1979) eine Rolle als ETA-Terrorist.
Die Besetzung Moros mit Volontés in IL CASO MORO hat einen unheimlichen Zug. Nicht nur, dass ihn eine frappante Ähnlichkeit mit dem realen Moro auszeichnete, er selbst hatte bereits in TODO MODO von Elio Petri einen dünn verschleicherten Moro („M.“) gespielt. 1976 war das, zwei Jahre vor der Entführung und Ermordung des Christdemokraten.
Der Blick des Schauspielers, vor allem auf der nachinszenierten „Aufnahme der Aufnahme“, dem berühmten Foto und der Reinszenierung ihrer Entstehung, ist allerdings stechender, eindringlicher, wie müde und resigniert Volontés Moro auch immer ist. Diese Wachheit macht ihn zur besonderen – und neben seiner Frau einzig – tragischen Figur in Ferraras Film, der eine Rekonstruktion der Ereignisse verteilt über alle Schauplätze liefert.
Zu Beginn sehen wir Moro im Kreis seiner Familie, wie er sich verabschiedet, von seinem Enkel, seiner Tochter, seiner Frau. Derweil bereiten die Terroristen, u.a. als Piloten und Flugpersonal verkleidet, den Überfall auf die Wagenkolonne vor. Nach dem blutigen Kidnapping wechselt der Film hin und her, zeigt den Krisenstab bei seinen Spekulationen und dem Planen und Ausführen von Straßenkontrollen und Hausdurchsuchungen. Er zeigt die Politiker um Andreotti wie sie ihr Vorgehen, ein Nichtstun oder aber Hartbleiben abklären – was von der Familie Moros zunächst nicht geglaubt und schließlich verzweifelt verdammt wird.
Auf der anderen Seite: die Terroristen, wie sie planen und organisieren, die Entdeckung fürchten; eine Brigadistin, die ein Kommuniqué für einen Pressemann auf einem Fotoautomaten versteckt, Moros Briefe und Fotos, das politische „Verhör“ und Diskutieren mit dem Gefangenen in seiner kleinen klaustrophobischen Kammer. Jeder ist in diesem Film in Zugzwang: Die Terroristen, die immer mehr Gefahr laufen, von den Carabinieri, aber auch politisch eingekesselt zu werden. Die gegen Moros Willen einen Brief von ihm öffentlich machen.
Oder Moro, der immer mehr Briefe verfasst weil ihm auch sonst nichts zu tun übrigbleibt, der in seinen Schreiben appelliert, immer dringlicher und selbst in aller Ruhe immer verzweifelter wird und dabei sachlich mit den – ebenfalls nicht als blindwütig oder unbedacht gezeigten – BR-Entführern überlegt, was man noch tun könne. Auch die Terroristen debattieren und grübeln, wie sie bestmöglich aus der Sache rauskommen. Ein zähes Warten überall, derweil jeder auf allen Seiten fühlt, wie ihm die Zeit davonrennt.

Ferrara zeigt den Fall Moro als ein distanziertes Drama, eines, bei dem keiner gewinnen kann, bei dem auch keiner der Bösewicht ist. Vielleicht hat die Politik nicht alles getan, um Moro lebend wiederzubekommen – aber ist das nicht allzu leicht gesagt aus der Weisheit des Rückblicks? Und kann man das nicht immer behaupten, solange Terroristen nicht im vollen Umfang bedingungslos nachgegeben wird? Auch das Tun der Terroristen bleibt so schlüssig wie sinnlos. Ferrara jedenfalls enthält sich wohltuend einer Stellungnahme und überlässt sie den Parteien im Film (bzw. dem Zuschauer). Was er zeigt, war Mitte der 1980er vielleicht noch nicht vorbei, aber Geschichte.
In IL CASO MORO sind entsprechend das dramatische Gewicht und die Aufmerksamkeit verteilt, es ist ein Blick von oben. Lediglich Moro, passiv, eingekerkert, ist der tragische Mittelpunkt, der freilich aus der Not und Bedrängnis heraus zur Größe findet. Moro, der ruhig und überlegt seinen katholischen Glauben praktiziert – der bittet, alleingelassen zu werden oder einer von seinen Entführern auf Kassette aufgenommene Messe lauscht – und der bis ganz zuletzt noch einer stillen Hoffnung anhängt, die angesichts des Leidens der Familie, dem professionellen Kümmern der Sicherheitskräfte und ihrer Minister und dem angespannten Warten und Planen der Brigadisten als ein menschliches In-sich-Ruhen, als eine sonderliche Klarheit in all dem auch emotionalen Aktionismus, berührt.
Als schließlich der nervöse Anführer der Aktion Moro aus seinem Gefängnis holt weil man ihn nun freilassen werde und Moro mitspielt, dann ist das ein intensives zweiseitiges Wechselspiel aus Lüge und Selbsttäuschung, das sowohl sich wie auch den anderen schonen soll.
Wenn IL CASO MORO Stellung bezieht gegen das Machtkalkül der Regierenden, dann indem er Moro als Figur entpolitisiert und entpolitisieren muss. Vielleicht der merkwürdigste Zug des Politthrillers.
IL CASO MORO heißt der Film, der „Fall“ Aldo Moro also, was ihm und seinem Ansatz weit angemessener ist als der nach Verstrickung klingende deutsche Titel: DIE AFFÄRE ALDO MORO. Vieles wird noch zu erzählen sein zu diesem Fall: über üble Machenschaften und kaltes, eigentlich unmenschliches Kalkül, über rechten Antikommunismus und Terrorismusinstrumentalisierung, über die Loge P2 und die CIA. Bei Ferrara findet sich all das nicht – und muss es auch nicht.
(In Teil 2: John Frankenheimers YEAR OF THE GUN / VERLIEBT IN DIE GEFAHR (1991))
Bernd Zywietz