Diandra Linnemann - Lilienschwester
Im Februar 2016 erhielt ich eine E-Mail von der deutschen Fantasy-Autorin Diandra Linnemann, in der sie mir vorschlug, ihren Roman „Lilienschwester" zu lesen und zu rezensieren. Die Kurzbeschreibung klang interessant, der Schreibstil der Leseprobe überzeugte mich. Das Buch landete auf meinem Kindle. In weiser Voraussicht hatte ich Diandra darauf vorbereitet, dass es eine Weile dauern könnte, bis ich mir ihren Roman vornehmen würde. Im August war es soweit.
Die 17-jährige Lilja ist eine starke junge Frau. Sie organisiert ihr Leben mit ihrem Vater fast im Alleingang. Nicht, dass sie eine Wahl hätte, denn ihr Vater ist Alkoholiker und kaum in der Lage, sich um seine Tochter zu kümmern. Sie ist es gewohnt, auf sich selbst gestellt zu sein. Umso schockierter ist Lilja, als ihr ein gutaussehender Fremder eines Abends unverhofft das Leben rettet. Leider hat ihr mysteriöser Retter nicht alle Tassen im Schrank. Er behauptet ernsthaft, sie sei die lang vermisste Prinzessin einer magischen Welt und er müsse sie dorthin zurückbringen. War ja klar, dass ausgerechnet sie an einen Verrückten gerät. Am folgenden Tag taucht er jedoch erneut genau im richtigen Augenblick auf, um sie vor einem weiteren Angriff zu bewahren. Lilja beginnt an ihrem Urteil zu zweifeln. Misstrauisch und etwas widerwillig lässt sie sich von dem Fremden entführen - und staunt nicht schlecht, als sie sich plötzlich tatsächlich in einer anderen Welt wiederfindet. Der größte Schreck steht ihr allerdings noch bevor: Lilja hat eine Zwillingsschwester, mit der sie um die Thronfolge konkurrieren muss...
„Lilienschwester" appelliert an eine ganz bestimmte Vorstellung. Wer sich jemals nach dem Besonderen sehnte, irgendetwas, das die Realität etwas weniger gewöhnlich und grau erscheinen ließe, wird sich in diesem Buch wiederfinden. Diandra Linnemann spielt mit der Fantasie, dass das eigene Leben vielleicht von einem gewaltigen Geheimnis umgeben ist, von dem man selbst nichts ahnt. Da ich als Kind hin und wieder ausschweifenden Tagträumen erlegen bin, in denen ich mir in den buntesten Farben ausmalte, in Wirklichkeit die Tochter des Königs eines fernen Landes zu sein und es bei meiner Geburt lediglich eine dramatische, folgenreiche Verwechslung gab, ist es wohl nicht überraschend, dass mir „Lilienschwester" gut gefiel. Diandra Linnemann lässt ihre Protagonistin Lilja genau diesen Traum leben. Lilja ist die Prinzessin, die ich sein wollte. Dadurch empfand ich diesen Roman als charmant und märchenhaft. Bis heute übt das Spiel namens „Was wäre wenn..." eine immense Faszination auf mich aus, was sicher auch der Grund ist, warum ein Teil von mir noch immer auf meinen Brief aus Hogwarts wartet. Die Vorstellung, hinter der Fassade der eintönigen Realität und des Alltags könne eine ganze Welt voller Magie nur darauf warten, von mir entdeckt und erobert zu werden, ist elektrisierend.
Lilja selbst ist eine angenehme Protagonistin, mit der ich mühelos zurechtkam. Ich gönnte ihr ihre Abenteuer, weil sie bisher nicht viel Glück im Leben hatte und ein wenig Zauber verdient. Bedauerlicherweise ist Liljas Innenansicht allerdings sehr dominant, wodurch Umgebungsbeschreibungen und Hintergrundinformationen knapp und oberflächlich gerieten. Linnemann vernachlässigte den Blick nach außen; sie bietet kaum Details über das magische Reich an, über das Lilja unter Umständen herrschen soll. Ich war erstaunt, wie wenig sie über ihre Heimat und Herkunft wissen möchte. Sie gibt sich mit unverbindlichen Antworten zufrieden und hakt niemals genauer nach. Weder kennt sie die politische, noch die gesellschaftliche Situation dieser namenlosen Welt, lässt sich aber trotzdem arglos darauf ein, mit ihrer Zwillingsschwester um den Thron zu wetteifern. Sie kauft die Katze im Sack, was meiner Meinung nach nicht so recht zu ihrem ansonsten abgeklärten Wesen passen möchte. Auch die Tatsache, dass sie sich sehr schnell damit abfindet, ein Zwilling zu sein, erschien mir unglaubwürdig. Ihre Reise in die Parallelwelt schreibt de facto entscheidende Teile ihrer Biografie um, doch Lilja reagiert fast überhaupt nicht darauf. Sie ist nicht schockiert von diesen lebensverändernden Neuigkeiten - ich würde sie als milde verdutzt beschreiben. Nichtsdestotrotz fand ich es sehr mutig, dass Diandra Linnemann Lilja eine dunkle, gefährliche Seite zugesteht, die wirklich ziemlich furchteinflößend ist. Sie wirkte dadurch weit weniger eindimensional, als ich zwischenzeitlich angenommen hatte. Selbst die Prinzessin einer magischen Welt braucht eben ein paar Abgründe, um interessant zu bleiben.
Ich denke, mindestens 100 Seiten mehr hätten „Lilienschwester" sehr gut getan. Ich sehe das Potential der Geschichte und finde es schade, dass Diandra Linnemann es nicht nutzte und zur Entfaltung brachte. Für mich fühlt sich dieser Roman unfertig an, als gäbe es noch so viel über Lilja und ihr zauberhaftes Schicksal zu sagen. Außerdem hätte ich mir eine deutliche Botschaft, eine Moral gewünscht, die den märchenhaften Charakter des Buches unterstreicht. Mir hat die Lektüre von „Lilienschwester" Freude bereitet, doch leider berührte mich die Geschichte weniger intensiv, als möglich gewesen wäre. Sie weckte in mir keine Leidenschaft. Trotz dessen bin ich bereit, aus einem gewissen Nostalgieempfinden heraus drei Sterne zu vergeben. Daran erinnert zu werden, wie es war, als Kind mit offenen Augen von einer versteckten, magischen Welt zu träumen und darauf zu hoffen, eines Tages in ein wundersames Abenteuer verstrickt zu werden, war einfach bezaubernd. Ich hoffe sehr, dass Diandra Linnemann sich dafür entscheidet, „Lilienschwester" eine zweite Chance zu geben und der Geschichte das Leben einzuhauchen, das sie verdient. Mit dem Gedanken spielt sie jedenfalls, das hat sie mir verraten. Wer weiß, vielleicht hören wir schon bald Neues von Lilja und finden heraus, wie sie sich als Prinzessin einer Parallelwelt voller Magie schlägt.