In den letzten Wochen hat sich zwischen Christoph Meury und mir ein Dialog per E-Mail zum Thema Integration und Inklusion von Menschen mit Behinderung ergeben. In der «TagesWoche» vom 4. September 2015 wurde dieser veröffentlicht. Hier ein paar Müsterchen daraus:
Das Bild des Behinderten, der zwar unsere Unterstützung verdient, aber nicht ganz für voll genommen wird, ist in den Hinterköpfen noch vorhanden. Und das wirkt sich eben zum Beispiel so aus, dass man zwar den Zuschauerraum von Barrieren befreit, nicht aber die Bühne. Oder dass in höheren Positionen in Wirtschaft und Verwaltung recht wenige Behinderte anzutreffen sind. Das hat hauptsächlich mit Barrieren im Kopf zu tun – durchaus auch im Kopf der Betroffenen selbst.
Ohne tabulose Inklusion werden sich Behinderte und Nichtbehinderte stets zunächst fremd gegenüberstehen, wie Bewohner zweier verschiedener Welten. Entsteht trotzdem eine Beziehung, ein Austausch auf Augenhöhe, der vielleicht weiter gepflegt wird, so verschwindet das Fremde nach und nach – und damit auch das verkrampfte Bemühen, ja nicht in ein Fettnäpfchen zu treten oder den Behinderten irgendwie zu verletzen. Als ob Behinderte besondere Sensibelchen wären.
Wie können behinderte Menschen ein eigenständiges und unabhängiges Leben führen, wenn sie von zahlreichen Hilfestellungen abhängig sind?
Selbstverständlich ist es schwieriger, eigenständig zu bleiben, wenn man stark auf Unterstützung angewiesen ist. Wer beisst schon die Hand, die ihn füttert? (…) Es braucht da einen ziemlich störrischen Geist. Der Kunstmaler Christoph Eggli oder die Psychologin Aiha Zemp waren solche Charaktere – und sie haben es beide ziemlich weit gebracht. Ansonsten sind unsere Heime voll von Menschen, die weit unter ihrem Potenzial leben – weil ihnen oft aus gutem Willen viel zu viel abgenommen und erspart wird. Das kann man Hospitalismus nennen.
Ich sehe nur, dass im Behindertenwesen, in dem, was manche vielleicht nicht ganz zu Unrecht «Betreuungsindustrie» nennen, eine schwer durchschaubare Gemengelage von halbbewussten und gänzlich unbewussten – vielleicht teilweise auch voll bewussten – Eigeninteressen besteht, die das Potenzial der Behinderten irgendwie einzäunt und nicht voll zur Geltung kommen lässt.
Ich glaube, Inklusion kommt nicht von selbst, sondern ist ein emanzipatorischer und damit gesellschaftspolitischer Prozess. (…) Auch die Gesellschaft hat ein natürliches Bedürfnis nach Diversität, nach Farbigkeit – oder sollte es zumindest haben. Denn sie ist so robuster, weniger anfällig auf Krankheiten. Vielleicht kann man analog zur Biodiversität von Soziodiversität sprechen, welche die Gesellschaft stärkt. Ausgrenzung und Ghettoisierung waren noch nie fruchtbar.
Das ganze Gespräch ist auch online erschienen, angereichert durch eine Fotostrecke zur Zugänglichkeit des Basler Rathauses für Rollstuhlfahrer – mit mir als Fotomodell. Auch hier ein Müsterchen.
Gespräch im Rathaussaal mit Herrn Zumbach, Abwart. Im Hintergrund Christoph Meury (Bild: Hans-Jörg Walter, TagesWoche).
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