Deutschlands heimlicher Herrscher!

„Winkeonkel“, „Grüßaugust“ oder „Staatsnotar“ sind häufige Bezeichnungen, die man – auch in der seriösen Presse – immer mal wieder über den deutschen Bundespräsidenten liest. Allgemein herrscht der Glaube, der deutsche Präsident sei lediglich eine Symbolfigur ohne politische Relevanz, so wie etwa die Königin von England. Doch weit gefehlt! Der Bundespräsident hat mehr Macht und Einfluss als viele seiner europäischen Kollegen.

Der „machtlose“ Präsident ist eine optische Täuschung

Es stimmt zwar, das Amt des Bundespräsidenten wurde bei der Schaffung des Grundgesetzes bewusst schwächer ausgelegt als das des Reichspräsidenten vor 1934. Denn dieser war ein quasi allmächtiger Ersatz-Kaiser und trug so zur Instabilität der ersten deutschen Republik bei, am Ende auch zu ihrem Niedergang. Verglichen mit dem Reichspräsidenten ist der Bundespräsident also tatsächlich schwächer, doch keineswegs machtlos.

Die Wahrnehmungsfalle

Hier greift das psychologische Prinzip, dass wir Dinge immer in Relation wahrnehmen. Oder, um es einfacher zu sagen: Hätte es das Amt des Reichspräsidenten nie gegeben, würde uns der Bundespräsident relativ einflussreich erscheinen. Im Kontrast zum Reichspräsidenten erscheint er uns dagegen relativ machtlos. Als Zuschauer unterliegen wir diesbezüglich einer kollektiven optischen Täuschung. Wir gehen einer klassischen Wahrnehmungsfalle auf den Leim, wie sie etwa Dan Ariely in seinem Bestseller zur Wahrnehmungspsychologie an anderen Beispielen beschreibt.

Der Aufsichtsrats-Chef der Nation

Das Amt des Bundespräsidenten ist tatsächlich nicht als reiner Repräsentationsposten ausgelegt, sondern als eine Art Aufsichtsrat der Nation – und das haben die Verfasser des Grundgesetzes ziemlich schlau gemacht. Sie haben de facto den Posten eines Chef-Managers geschaffen, den Bundeskanzler, der sich um die Tagespolitik kümmert.

Und über ihm und der Bundesregierung steht der Bundespräsident als Aufsichtsrat. Im Grunde dieselbe Konstruktion, wie man sie auch von deutschen Aktiengesellschaften kennt: das Management macht das Tagesgeschäft und der Aufsichtsrat stellt sicher, dass die Manager nicht querlaufen und dass die wirklich elementaren Werte in der Spur bleiben.

Ziemlich viel Spielraum

Wie der Bundespräsident sein Amt wahrnimmt, entscheidet er grundsätzlich selbst. Ihm steht dabei ein weiter Spielraum zu, wie das Bundesverfassungsgericht erst kürzlich nochmals bestätigt hat. Manche Präsidenten wirken dabei eher im Hintergrund, indem sie die Regierungsmitglieder und den Kanzler zu vertraulichen Gesprächen in das Präsidialamt einladen. Andere, wie etwa Horst Köhler, machen auch etwas öffentlicher deutlich, wer das allerletzte Wort hat – indem sie etwa Gesetze nicht unterschreiben.

Am Ende steht die Unterschrift

Denn wie man es dreht und wendet: ohne Unterschrift des Bundespräsidenten wird in Deutschland nichts zum Bundesgesetz. Der Bundespräsident prüft formelle Gesichtspunkte wie Zuständigkeits- und Verfahrensvorschriften, aber auch die Frage, ob ein Gesetz mit der Verfassung in Einklang steht oder anderweitig rechtlich problematisch ist.

So wäre etwa die deutsche Flugsicherung heute längst privatisiert, hätte Bundespräsident Horst Köhler dem entsprechenden Gesetz nicht die Unterschrift verweigert. Streng genommen könnte man aus dem Grundgesetz sogar ein uneingeschränktes Vetorecht des Präsidenten ableiten, jedoch hat sich dies in der so genannten Verfassungswirklichkeit nicht entwickelt, weil kein Bundespräsident bisher ein willkürliches Vetorecht für sich reklamiert hat.

Wie der Senior-Chef im Notfall das Chaos verhindert

Und dann noch das: Der Bundespräsident besitzt eine ganze Reihe von so genanten „Reservevollmachten“, die ihn in Zeiten politischer Instabilität zu einer zentralen Figur machen. Dass wir davon im Alltag wenig merken, liegt an der bemerkenswerten politischen Stabilität Deutschlands und nicht an mangelnden Kompetenzen des Bundespräsidenten. Ein aktueller Blick nach Griechenland, dessen Präsident deutlich geringere Kompetenzen als sein deutscher Kollege hat, führt uns eine solche Lage vor Augen, in der die Bedeutung des Bundespräsidenten als letzte Instanz stabilisierend wirken könnte.

Ein psychologischer Irrtum

Wie kommt es also, dass wir trotz allem den Bundespräsidenten in die falsche Schublade mit dem Etikett „Winke-Onkel“ stecken? Die Antwort hierauf findet man in unser aller Psyche. Wir Menschen nehmen nur Machtgebaren ernst, das klar als solches erkennbar ist. Machtausübung wird nur als solche wahrgenommen, wenn sie laut und sichtbar auf offener Bühne geschieht.

Wenn der Bundespräsident der Regierung etwa intern einen Wink gibt, dass er Probleme sieht, ein bestimmtes Gesetz zu unterschreiben und dieses dann umgearbeitet wird, dann wäre das eine ziemlich heftige Machtausübung. Allerdings bekommt dies niemand mit, weil es diskret geschieht – und so ist es für uns als Zuschauer, als existierte es nicht.

Der Volksmund kennt es

„Man glaubt nur, was man sieht“, sagt der Volksmund. Da der deutsche Bundespräsident als Aufsichtsratschef der Nation seine Macht subtil und hinter den Kulissen des politischen Alltagsbetriebs ausübt, sehen wir sie nicht – und glauben, sie sei nicht vorhanden. Wir erliegen dabei als Zuschauer einer psychologisch-optischen Täuschung.


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