Einsatzarmee statt Landesverteidigung – Die Aufgaben der Bundeswehr liegen wie die anderer Armeen eigentlich in der Landesverteidigung, ebenso wie die NATO ursprünglich auf kollektive Selbstverteidigung ausgerichtet war. Die NATO verlor ihre Existenzberechtigung im Grunde mit der Auflösung des Warschauer Paktes, wurde jedoch nicht aufgelöst, sondern erweitert. Auch die Europäische Gemeinschaft wurde nicht neu definiert, sondern zur Europäischen Union (mit der vertraglich festgehaltenen Perspektive, zum europäischen Pfeiler der NATO zu werden) und ebenfalls erweitert. Dass sowohl in der NATO als auch in der EU die USA die Richtung vorgeben, erkennen immer mehr Menschen anhand der bewusst herbeigeführten “Krise” in der Ukraine und den Nicht-Reaktionen auf die NSA-Affäre. Auf nationaler Ebene werden entsprechende Veränderungen vorgenommen, die als erstes jene erkennen, die sich seit Jahren etwa mit Militär und Sicherheitspolitik befassen.
“Nato” – Foto: © Dennis Geier / pixelio.de
Einer, der aufgrund seines Wissens gegen den Strom schwimmt, ist der frühere bayerische Staatsminister und nunmehrige Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler (CSU). In einem Referat an der Bundeswehr-Universität in Hamburg am 4. Juni 2014 analysierte er das Thema “Souveränität, Bündnisloyalität und mehr Verantwortung in der Welt: Sinnhaftigkeit und Grenzen von Bundeswehreinsätzen im Ausland”. Eingangs weist Gauweiler auf eine Konferenz hin, zu der Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) am 13. Mai 2014 einlud und die das Motto “Review 2014 – Außenpolitik Weiter Denken” hatte. Der Minister wollte damit seinen eigenen Worten nach eine “selbstkritische, ergebnisoffene Diskussion mit einer breiten Öffentlichkeit darüber, wie deutsche Außenpolitik heute aussehen soll”, beginnen, wie Gauweiler zusammenfasst. Deutschland bewege sich im “Spannungsfeld zwischen gestiegenen internationalen Erwartungen und der Forderung nach mehr außenpolitischer Zurückhaltung”, die man in der Öffentlichkeit oft hört.
Steinmeier will eine “neue Verortung” der deutschen Außenpolitik in einer “ungeordneten Welt” und ging auf eine Umfrage ein, indem er nur eines ihrer Ergebnisse erwähnte: “Unter den 18 – 29-Jährigen jedenfalls ist die Mehrheit für mehr Verantwortung in der Welt.”
Es sei darauf hingewiesen, dass sich der ehemalige Wahlkampfmanager von Willy Brandt, Albrecht Müller, auf den Nachdenkseiten fragt, ob man Steinmeier trauen kann, und zum Ergebnis kommt, dass der Minister nicht als “Beauftragter der sozialdemokratischen Mitgliedschaft”, sondern “auf fremde Rechnung” tätig ist. Ich empfehle auch österreichischen SozialdemokratInnen (wegen vergleichbarer Zustände in ihrer eigenen Partei) diesen Artikel und möchte zudem erwähnen, woran mich dieses Bedürfnis nach “Verortung” erinnert. Vor der EU-Abstimmung in Österreich im Juni 1994 war ich Referentin bei den Grünen und habe unter anderem den Bereich Sicherheitspolitik kritisch aufgearbeitet (was mir nicht gut bekam). Er interessierte mich schon deswegen ganz besonders, weil österreichische Stellen (u.a. Ministerien), die bei der Werbung für einen Beitritt zur EU klotzten, sich um dieses Thema auffällig herumdrückten. Dazu gab es nahezu nichts, sodass ich selbst recherchierte und aus den deutschen “Verteidigungspolitischen Richtlinien” von 1992, Dokumenten von NATO, WEU und EU-Parlament, Studien zur Sicherheitspolitik usw. ein Dossier erstellte.
Vom Gesichtspunkt der völkerrechtlichen, verfassungsrechtlich abgesicherten Neutralität Österreichs käme ein Beitritt zu einer Gemeinschaft natürlich nicht in Frage, die zum europäischen Pfeiler der NATO werden soll. Die massive Pro-EU-Propaganda hatte freilich, wie ich damals wusste, mit Interesse der USA an der EU, an der Erweiterung von EU und NATO zu tun. Dabei ist weniger von Bedeutung, was Österreich betrifft, ob das Bundesverfassungsgesetz über Neutralität bestehen bleibt oder nicht, sondern wie sehr man Österreich dennoch integrieren und instrumentalisieren kann, ohne dass es nennenswerten Widerstand gibt. Tatsächlich hat der Beitritt zur EU – die Volksabstimmung ging dank massiven “Werbens” für die Mitgliedschaft aus; den EU-Vertrag brachte man der Bevölkerung sicherheitshalber gar nicht zur Kenntnis – natürlich auch Auswirkungen auf den Bereich Landesverteidigung und Heer. Beim damaligen Studium von Dokumenten fiel mir auf, dass nach dem Kalten Krieg nahezu krampfhaft nach “neuen Bedrohungsbildern” gesucht wurde, man etwa derart argumentierte, dass man nicht so genau weiss, was uns “bedrohen” könnte, ergo sollte man auf alles vorbereitet sein, was man sich vorstellen oder auch nicht vorstellen kann. Wenn Steinmeier “verorten” möchte, ist dies nur ein anderes Wort dafür, über die eigentliche Aufgabe von Armeen hinauszugehen, nämlich ihr Land zu verteidigen, wenn es notwendig ist.
Steinmeier und Co. hoffen, dass sich die von ihnen vertretenen Positionen in der Frage “Einmischen oder zurück halten” auch in Umfragen widerspiegeln, sie also behaupten können, in Einklang mit dem Willen der Bevölkerung zu handeln. Gauweiler zitiert auch Bundespräsident Joachim Gauck, der auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 31. Jänner 2014 für mehr außenpolitisches Engagement Deutschlands plädierte: “Manchmal kann auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein. Eines haben wir gerade in Afghanistan gelernt: Der Einsatz der Bundeswehr war notwendig, konnte aber nur ein Element einer Gesamtstrategie sein. Deutschland wird nie rein militärische Lösungen unterstützen, es wird politisch besonnen vorgehen und alle diplomatischen Möglichkeiten ausschöpfen. Aber wenn schließlich der äußerste Fall diskutiert wird – der Einsatz der Bundeswehr -, dann gilt: Deutschland darf weder aus Prinzip ‘nein’ noch reflexhaft ‘ja’ sagen.” Gauweiler kommtiert dies so: “Natürlich ging es dem Bundespräsidenten um die Weltherrschaft des Guten. Meine Gegenthese lautet: Es dient weder dem Frieden in der Welt noch einer echten Entspannung in Europa, mit Überlegungen über ‘mehr Verantwortung in der Welt’ für eine Ausweitung von deutschen Militäreinsätzen zu werben.”
Gauweiler zitiert Thomas Mann, der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unter anderem feststellte: “Zur Weltherrschaft gehört vor allem Naivität, eine glückliche Beschränktheit und sogar Vorsatzlosigkeit, nicht aber ein extremes Seelenleben wie das deutsche, worin sich der Hochmut mit der Zerknirschung paart.” Auch für die Rolle Deutschlands in der EU sind andere Staaten nicht gerade dankbar, denn “ein Land der Moral ist immer in Gefahr, Sonderwege zu wählen. Weil der ‘Moral’ immer das Besondere anhaftet. Bei der Besichtigung seiner Handlungen durch Außenstehende läuft der explizit Moralische – Mensch oder Staat – immer wieder Gefahr, zwischen Ethik und Heuchelei falsch verortet zu werden.” Was die von Steinmeier sehr selektiv wahrgenommene Umfrage betrifft, nahmen an ihr 1000 Personen über 18 teil, die zu 60% für außenpolitische Zurückhaltung votierten. Vor 20 Jahren sagten 62% Deutschland müsse größere Verantwortung bei internationalen Krisen übernehmen; heute sind es nur mehr 37%. “Als Gründe für ihren Wunsch nach einer stärkeren außenpolitischen Zurückhaltung führen 73% an, dass Deutschland genug eigene Probleme habe, um die es sich zuerst kümmern sollte. Das alte Problem: Wird Deutschland am Hindukusch verteidigt oder in der Hamburger U-Bahn?”
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Und “besonders skeptisch zeigen sich die Befragten in Bezug auf den Einsatz deutscher Soldaten und bei Rüstungsexporten: 82% wünschen sich weniger Militär-Einsätze der Bundeswehr. Ebenso viele Befragte finden, Deutschland solle weniger Waffen an verbündete Länder liefern.” Es stellte sich auch heraus, dass sich 12% der Menschen sehr stark und 56% immerhin noch stark für Außenpolitik interessieren; am größten ist das Interesse bei den Über-60-jährigen. Mögen PolitikerInnen und Medien auch für “mehr Verantwortung in der Welt” trommeln, lehnen zwei Drittel der Bevölkerung diese Vorstellung ab. “Unter dem Eindruck des Afghanistan-Kriegs ist die Skepsis gegenüber militärischen Einsätzen noch gewachsen; im Volk hat die alte bundesrepublikanische ‘Kultur der Zurückhaltung’ (noch) viele Anhänger, mögen führende Politiker, vom Bundespräsidenten abwärts, auch eine Kultur der Verantwortung propagieren“, sagt Gauweiler. Wenn der Bundespräsident meint, “wir dürfen nicht aus Prinzip nein sagen”, müsse man sich fragen: “Ist das wirklich richtig? Hätte ein solches Prinzip nicht seinen Sinn? Oder hat es für uns sogar Verfassungsrang?”
Und Gauweiler erinnert an die Geschichte der Bundeswehr, die damit begann, dass mit dem Grundgesetz (Mai 1949) noch völlig undenkbar, dass Deutschland (wieder) militarisiert würde. Er zitiert die “Erinnerungen” eines Zeitzeugen, des früheren Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß, der als junger Politiker kurz nach dem Ausbruch des Korea-Krieges (1950) mit einem handverlesenen Kreis anderer Unionspolitiker beim amerikanischen Hochkommissar John McCloy eingeladen war. McCloys Anliegen war: “Meine Herren, sind Sie bereit, wiederaufzurüsten und wenn ja, unter welchen Bedingungen?” Strauß zitierte Präsident Roosevelt: “Wir sind nicht gekommen, die Deutschen zu unterdrücken, wir kommen auch nicht als Befreier, aber wir werden die Deutschen von einer Last befreien bis zum Ende ihrer Geschichte, von der Last, ein Gewehr zu tragen.” Und McCloy lachte und sagte: “So schnell ändern sich die Maßstäbe.”
Gauweiler fasst zusammen, wie es dann weiterging: “Strauß baute die Bundeswehr auf, erst als Parlamentarier, dann als Minister, und machte aus ihr eine der modernsten und freiheitlichsten Armeen der Welt. Heute weiß man, dass der Generalstab der US-Army ab 1950 sicher mit einem 3. Weltkrieg für die allernächsten Jahre rechnete und dass die Sowjets dann wegen ihrer Bodenstärke von 173 Divisionen in Europa (USA: 9 Divisionen; Britisches Empire: 8 Divisionen) innerhalb von 60 Tagen das faktisch unverteidigte Westeuropa bis zu den Pyrenäen aufrollen würden. Die Rückeroberung der Welt wäre nach den Überlegungen der Joint Chiefs of Staff überhaupt nur noch durch eine nukleare Gegenoffensive auf sowjetische Industrie- und Bevölkerungszentren möglich gewesen. Als von den USA in der Bedrängnis des Jahres 1950 zum ersten Mal ein ‘deutscher Verteidigungsbeitrag’ angedacht wurde, stellte Strauß unmissverständlich klar, dass an eine ‘German-Fremdenlegion’ als Kanonenfutter der USA nicht zu denken war, sondern nur an deutsche Streitkräfte in normaler militärischer Gliederung und – entgegen jeder alliierten Vorbehalte – bei absolut gleichberechtigter Mitgliedschaft im neu gegründeten Nordatlantikpakt.
Der deutsche Gesetzgeber stimmte nach dem Scheitern der EVG den Beitritten in die NATO und die WEU am 24. März 1955 zu und regelte die Aufstellung von Streitkräften dann durch Gesetz vom 19. März 1956. So geschah es und nur dadurch wurde dem Schrecken der Sowjetmacht in Westeuropa ein Gleichgewicht gegenübergestellt, das – bis Gorbatschow kam – unsere Lebensversicherung war.” Hier muss man erklären, dass EVG für Europäische Verteidigungsgemeinschaft steht, ein Projekt der militärischen Integration mit gemeinsamen Streitkräften, das an der Ratifikation in der Pariser Nationalversammlung (1954) scheiterte. Was die Bedrohungspotenziale der Sowjetunion betrifft, wurden diese – wie wir heute wissen, auch weil es u.a. seitens der CIA zugegeben wurde – immer wieder übertrieben wurden, jedenfalls im Bereich Rüstung und Atomwaffen. Letztere bedeuten für Strauß übrigens, dass bisherige Kriegsführung praktisch außer Kraft gesetzt war: “In seinem Gespräch mit dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow am 29. Dezember 1987 in Moskau sagte Strauß wörtlich, dass er seit einem Informationsgespräch im Pentagon im Jahr 1962 über das Kriegsbild im atomaren Zeitalter die Überzeugung hatte, dass die Erde nach einem solchen Kriege nicht mehr bewohnbar sei. Er mache sich sehr stark für die These: ‘Ein Krieg ist nicht mehr denkbar. Ein Krieg ist nicht mehr kalkulierbar. Ein Krieg ist nicht mehr führbar. Jeder Krieg entgleitet der Kontrolle.’”
Strauß stand “mit dem Gewicht der CSU” für militärische Zurückhaltung, sodass nicht einmal eine Sanitätskompanie der Bundeswehr am Vietnamkrieg teilnahm, “die Bundeskanzler Erhard dem US-Präsidenten Johnson bereits zugesagt hatte. Ebenso den geplanten Einsatz deutscher Soldaten unter UNO-Kommando in Zypern. Kein Verteidigungsminister der SPD der alten Bundesrepublik, weder Helmut Schmidt noch Georg Leber noch Hans Apel, haben diesen von ihm gezeichneten Weg im Grundsatz verlassen. Erst die Beteiligung der Bundeswehr an der Bombardierung Belgrads unter der Federführung Joschka Fischers im Jahr 1999 und die folgenschwere Eröffnung des Verteidigungsministers Struck zur Rechtfertigung der Verlegung und Einschaltung der Bundeswehr, dass Deutschland im afghanischen Bürgerkrieg ‘am Hindukusch’ verteidigt werde, hat eine neue Seite in der deutschen Verteidigungspolitik aufgeschlagen.”
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Gauweiler sagt, dass Strauß sich noch auf das Grundgesetz berief: “Dass wir selbst anfangen könnten stand niemals auch nur ansatzweise zur Debatte – ein Blick ins Grundgesetz, Art. 87a, genügt um dies zu verdeutlichen.” Deutschlands Streitkräfte dürfen im Fall der Katastrophenhilfe und im Verteidigungsfall eingesetzt werden, ebenso zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes. Per Grundgesetz wurde auch das “Verbot des Angriffskrieges” festgehalten, sodass Streitkräfte der Verteidigung gegen bewaffnete Angriffe dienen. Armeen dienen auch dazu, die Souveränität eines Staates zu schützen: “Mit dem Begriff der ‘äußeren’ bzw. völkerrechtlichen Souveränität bezeichnet man die Fähigkeit des Staates, nach außen und unabhängig von anderen Staaten im Rahmen und nach Maßgabe des Völkerrechts zu handeln. Aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland war damit insbesondere auch die Unabhängigkeit von den vorbehaltenen Rechten der Siegermächte gemeint.
Nach Abschluss des Zwei-Plus-Vier-Vertrages, unterzeichnet am 12. September 1990, waren die ‘Siegermächte’ damit einverstanden, dass in Deutschland die Einheit der deutschen Staatsgewalt wieder hergestellt und eine homogene Rechts- und Kompetenzordnung geschaffen wurde. Daher besteht der Grundsatz der Nichteinmischung eines anderen Staates in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland (Interventionsverbot) nunmehr auch für das wiedervereinigte Deutschland. Auch das Prinzip der souveränen Gleichheit aller
Mitglieder der Vereinten Nationen (Art. 2 Nr. 1 UN-Charta) gilt damit in vollem Umfang für sie. Die Feindstaatenklausel wie sie in den Artikeln 53 und 107 der UN-Charta bis zum heutigen Tage enthalten ist, ist ein sichtbarer Ausdruck der vormals beschränkten Souveränität der Bundesrepublik Deutschland. Völlig zu Recht unterstütze die Bundesrepublik den UN- Generalsekretär in seinem Bemühen, die zwischenzeitlich allseits als obsolet angesehene Feindstaatenklausel aus der UN-Charta zu streichen.” Dies ist bislang nicht geschehen, kritisiert Gauweiler: “Warum diese Klausel bisher noch nicht gestrichen wurde, ist eine für die Bundesrepublik Deutschland bisher offen gebliebene Frage. Alle UN-Mitglieder sind gleich – ein paar Hauptzahler der UN, Deutschland und Japan, sind ungleicher.”
Apropos Japan: Gauweiler schildert den StudentInnen, wie dieses Land (in einer vergleichbaren Lage nach dem Zweiten Weltkrieg) seine “Selbstverteidigungskräfte” aufgebaut hat. In Artikel 9 der Verfassung Japans steht nämlich, dass man “in aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden … für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und die Androhung oder Ausübung von militärischer Gewalt als ein Mittel zur Regelung internationaler Streitigkeiten” verzichtet. Deshalb werden “Land-, See-und Luftstreitkräfte sowie andere Kriegsmittel nicht unterhalten. Ein Kriegsführungsrecht des Staates wird nicht anerkannt.” Man diskutiert in Japan darüber, “wie das Selbstverteidigungsrecht ausgeübt werden darf. Die herrschende Ansicht besagt, dass zur Selbstverteidigung, nota bene nur hierzu, jede erforderliche Maßnahme ergriffen werden darf. Demzufolge darf eine Streitmacht zu Verteidigungszwecken unterhalten werden.
Aus deutscher Sicht ist daran interessant, dass die japanische Verfassung bekanntlich aus analogen historischen Gegebenheiten hervorging wie das Grundgesetz. Gleichwohl sind bis heute praktisch keine japanischen Streitkräfte außerhalb Japans stationiert. Man wird nicht behaupten können, dass Japan deswegen kein geachtetes Mitglied der internationalen Gemeinschaft sei. Der Umstand, dass das japanische Militär heute eine beachtliche Stärke – ca. 240.000 Mann – erreicht hat, macht auch deutlich, dass man sich in Japan keine idealistischen Illusionen über den Gehalt der japanischen ‘Friedensverfassung’ macht. Vielmehr zieht Japan seine militärische Stärke heute aus einer bewussten Konzentration auf die Verteidigung, also einer strikt defensiven Ausrichtung seiner Streitkräfte. Auch nach der am 17. Dezember 2013 verabschiedeten neuen Nationalen Sicherheitsstrategie steht die erforderliche Abschreckung von Bedrohungen, die Japan selbst erreichen können, im Fokus.”
Daher konzentrieren sich die Streitkräfte auch “mit nahezu unveränderter Personalstärke sowie einer strikten Auslegung der Verfassung unvermindert weiter auf die Landesverteidigung. Nahezu alle Modernisierungsprozesse der letzten 20 Jahre waren hierauf ausgerichtet. Die neue nationale Sicherheitsstrategie will dies nur durch eine Verbesserung des Sicherheitsumfeldes in der asiatisch-pazifischen Region ergänzen.” Ganz anders hingegen der Trend bei der Bundeswehr, “wo im Zuge der Entwicklung zu einer ‘Einsatzarmee’ – massiv Personal abgebaut, die Zahl schwerer Waffensysteme reduziert oder diese sogar ganz abgeschafft, statt dessen verlegbare Ausrüstung beschafft sowie für den weltweiten Einsatz kleinere Verbände geschaffen.” Die Parallelen zu Österreich sind zumindest für jene Menschen unübersehbar, die wissen, was man unter der Bezeichnung “Einsatzarmee” versteht, doch dazu später.
Gauweiler meint, “Verteidigung” werde so definiert, dass ein “Verteidigungsfall” (früher sprach man einfach von Krieg) vorliegen muss, ein Angriff mit Waffengewalt auf das Bundesgebiet stattfindet, der diesen Fall begründet. “Wird der Verteidigungsfall festgestellt, ist Deutschland im Krieg. Aber nur dann. Wirklich nur dann? Von ‘Krieg’ könne man ‘umgangssprachlich’ auch in Afghanistan reden, sagte ein ehemaliger Verteidigungsminister im Rahmen des ISAF-Einsatzes am 4. April 2010. Diese Aussage ist problematisch und erhellend zugleich. Problematisch, weil der Verteidigungsfall gem. Art. 115a GG sicher nicht vorlag. Deutschland wurde nicht angegriffen und auch im Übrigen bestand keine Verteidigungslage mit Blick auf Afghanistan mehr. Vor allem aber ist sie erhellend. Sie zeigt, in was für eine Situation wir uns dort begeben haben. Eine Aktivität, die unsere Verfassungslage in nichts entspricht. Wenn das ein ‘Krieg’ war, hätten wir uns nicht beteiligen gedurft. Hinzu kommt dass der ‘Angriffskrieg’ völkerrechtlich spätestens mit der UN-Charta vom 26. Juni 1945 kein erlaubtes Ziel der Politik mehr darstellt. Es gilt das Gewaltverbot nach Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta. Gleiches gilt für das GG, wie Art. 2512 und 2613 belegen.”
1994 entschied das Bundesverfassungsgericht über Out-of-area-Einsätze mit 4 zu 4 Richterstimmen, was eine “weitreichende sicherheitspolitische Schwerpunktverlagerung” mit sich brachte, denn nun galt, dass “die Feststellung des Verteidigungsfalls nach Art. 115a Abs. 1 GG [...] nicht Voraussetzung für jeden Verteidigungseinsatz der Bundeswehr [ist]“. Nun müssen “Verteidigungsfall” und “Fall der Verteidigung”, also eines konkreten Einsatzes, nicht mehr zusammenhängen: “Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages sieht in diesem Verfassungsgerichtsurteil, das den Weg zur Auslandseinsätze der Bundeswehr ebnete, ein wichtiges auslösendes Moment dafür, ‘dass die Bundeswehr beginnen konnte, sich unter Berücksichtigung neuer sicherheitspolitischer Herausforderungen und in dem Gefühl, ausschließlich von Freunden umgeben zu sein, von einer starren Verteidigungsarmee des Kalten Krieges zu einer modernen Einsatzarmee des 21. Jahrhunderts zu entwickeln.’” Es wird kein Zufall sein, dass viele in den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992, die Einsätze zur Sicherung von Wohlstand und Ressourcen vorsahen, das wichtigste sicherheitspolitische Dokument im Europa jenes Jahrzehnts sahen, denn die Richtlinien deuten in genau diese Richtung.
Auch die NATO hat sich verändert, wie Gauweiler ausführt: “Die NATO bezweckt in erster Linie den Schutz gegen Angriffe ‘von außen’. Nach der Präambel des NATO-Vertrags bildet sie ‘ein Sicherheitssystem, in dem die Mitglieder ihre Bemühungen für die gemeinsame Verteidigung und für die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit … vereinigen’. Sie verfolgt dieses Ziel gem. Art 5 des NATO-Vertrages insbesondere dadurch, dass sie einem Angriff gegen eine der Vertragsparteien eine Bündnisverpflichtung entgegenstellt, nach der jede der Vertragsparteien einen solchen Angriff als gegen alle Vertragspartner gerichtet ansehen wird. Die Vertragsparteien nehmen für den Bündnisfall die in Art 51 UN-Charta genannten Rechte individueller oder kollektiver Selbstverteidigung in Anspruch. Damit war die NATO ursprünglich als klassisches Verteidigungsbündnis konzipiert, mit – und das muss an dieser Stelle betontwerden – regionaler Begrenzung auf das Gebiet des Nordatlantiks.” Anders als die NATO definierte die WEU ihre Beistandspflicht explizit als militärisch, die Gültigkeit des Vertrags sah Beratungen über Situationen “gleichviel in welchem Gebiet” vor, also die Möglichkeit von Out-of-area-Einsätzen. Der 1948 zunächst als Brüsseler Pakt auf 50 Jahre abgeschlossene WEU-Vertrag sollte 1998 auslaufen; deshalb wurde in einer Erklärung zum EU-Vertrag festgehalten, dass die EU danach der europäische Pfeiler der NATO sein soll. Außerdem sollten die Verträge von NATO und WEU nach der “Strategie des doppelten Hutes” genutzt werden unter Verwendung jener Bestimmungen, in denen die WEU mehr Spielraum bietet.
1999 wurde nicht nur der Kosovokrieg mit deutscher (rotgrüner) Beteiligung geführt, die NATO beschloss auch eine Neuausrichtung: “Spätestens mit dem neuen Strategischen Konzept vom 24. April 1999, verabschiedet in Washington D.C., hat die NATO einen fundamentalen Bedeutungswandel vollzogen. Den Kern dieser Metamorphose hat das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 3. Juli 2007 in der Entscheidung zum Afghanistaneinsatz treffend auf den Punkt gebracht: ‘Entscheidende Neuerung dieses Konzepts ist die Option der NATO, in Reaktion auf neue Bedrohungsszenarien für die Sicherheit des euro-atlantischen Raums zukünftig auch nicht unter Art. 5 des NATO-Vertrags fallende Krisenreaktionseinsätze durchzuführen.’ Demzufolge besagt diese neue Konzeption, dass auch ohne Verteidigungslage und ohne Vorliegen einer Beistandspflicht militärische Gewalt optioniert ist, wenn ein Szenario wo auch immer als Bedrohungslage für den euro-atlantischen Raum bewertet wird. Zur Erinnerung: Nach dem BVerfG ist die Kernkonzeption des NATO-Vertrags der gegenseitige Beistand im Fall eines bewaffneten Angriffs. Das war die Geschäftsgrundlage der Zustimmung des Bundestags zum NATO-Beitritt.
Wenn die NATO jetzt hergeht und Krisenreaktionseinsätze wie in Afghanistan durchführt, die bewusst nicht unter Art. 5 NATO-Vertrag fallen, sondern der Befriedung eines Staates fernab des euro-atlantischen Raums dienen, dann frage ich mich, was dann überhaupt noch eine wesentliche Abweichung von der Vertragsgrundlage sein soll? Das Bundesverfassungsgericht argumentiert in der Entscheidung zum Afghanistan-Einsatz hier so: ‘Dass die NATO einen Krisenreaktionseinsatz in Afghanistan und damit außerhalb ihres Bündnisgebiets führt, stellt keine Praxis dar, die über die Konzeption des Strategiekonzepts von 1999 hinausgeht. Denn aus diesem ergibt sich deutlich, dass von vornherein auch und gerade an Krisenreaktionseinsätze außerhalb des Bündnisgebiets gedacht war (vgl. Ziff. 53e, 56 und 59 des Konzepts). Dies ist, wie der Senat bereits festgestellt hat, keine Überschreitung des Integrationsprogramms des NATO-Vertrags, soweit und solange der grundlegende Auftrag zur Sicherung des Friedens in der Region nicht verfehlt wird. Eine solche Lösung der NATO von ihrem regionalen Bezugsrahmen kann in dem ISAF- Einsatz in Afghanistan nicht gesehen werden. Denn dieser Einsatz ist ersichtlich darauf ausgerichtet, nicht allein der Sicherheit Afghanistans, sondern auch und gerade der Sicherheit des euro-atlantischen Raums auch vor künftigen Angriffen zu dienen.”
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Peter Gauweiler und Willy Wimmer (CDU), lange Jahre im Bundestag und vier Jahre Staatssekretär im Verteidigungsministerium, haben 2007 vor dem Verfassungsgericht vergeblich geltend gemacht, dass Einsätze von Tornado-Kampfjets der Bundeswehr in Afghanistan vom NATO-Zustimmungsgesetz nicht gedeckt wären. Allerdings hat Karlsruhe dem Einsatz Restriktionen auferlegt, sodass die Bundeswehr darauf verzichtet. Gauweiler kritisiert an der Bundeswehr-Universität, dass “der regionale Bezugsrahmen der NATO ins Unendliche ausgedehnt” wird. “Es ist schwer nachvollziehbar, den Einsatz der Aufklärungstornados über Afghanistan als noch von der friedenswahrenden Zweckbestimmung des NATO-Vertrags, dessen strikte Einhaltung das GG ausdrücklich gebietet, gedeckt anzusehen – auch wenn das Motto nun ‘mehr Verantwortung in der Welt’ lauten sollte.” Problematisch sind nicht nur UN-Mandate, die eine “Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit im Sinne von Artikel 39 der Satzung der Vereinten Nationen” in Afghanistan sehen, sondern auch, dass der Verfassungsgerichtshof meinte, zwischen der amerikanischen “Enduring Freedom”-Operation und dem ISAF-Einsatz klare Trennlinien ziehen zu können. Karlsruhe stellte weit entfernt vom Hindukusch fest, dass der ISAF-Einsatz “ersichtlich darauf ausgerichtet” ist, “nicht allein der Sicherheit Afghanistans, sondern auch und gerade der Sicherheit des euro-atlantischen Raums auch vor künftigen Angriffen zu dienen”.
Das klingt nach genau jener “unabhängigen” Justiz, die im Fall der NSA-Affäre in Form der Generalbundesanwaltschaft (bzw. in Österreich der Staatsanwaltschaft Wien) nicht ermitteln darf. “Die Sicherheitsinteressen des euro-atlantischen Bündnisses sollten dadurch gewahrt werden, dass von einem stabilen afghanischen Staatswesen in Zukunft keine aggressive und friedensstörende Politik zu erwarten ist, sei es durch eigenes aktives Handeln dieses Staates, sei es durch duldendes Unterlassen im Hinblick auf terroristische Bestrebungen auf dem Staatsgebiet”, bekamen Gauweiler und Wimmer 2007 ebenfalls zur Antwort. Mit diesem Argument kann man natürlich über jedes Land herfallen, um dann wesentlich weniger “stabile Verhältnisse” als zuvor zu hinterlassen. Und der “Zwang” zur Beteiligung von Ländern wie Deutschland geht sehr weit: “Angeblich hat Deutschland mit der ‘Einordnung’ in ein System kollektiver Sicherheit auch bereits seine Zustimmung zu solchen Hoheitsrechtsbeschränkungen erteilt, die im Vertragstext nicht klar erwähnt sind, sondern sich – gleichsam zwischen den Zeilen – verstecken und typischerweise mit dem Beitritt zu einem System wie der NATO verbunden sein sollen. Hierunter fallen die Eingliederung von Bundeswehrsoldaten in integrierte Verbände und die Überlassung der militärischen Herrschaftsgewalt. Solcherlei ‘Einordnungen’ sollen dementsprechend auch keiner Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland mehr bedürfen, deren Souveränität folglich entsprechend prekär ist.”
Indem der Bundestag am 6. Mai 1955 dem NATO-Beitritt zustimmte, soll er auch eine “Ermächtigung zur Fortentwicklung” an die Bundesregierung erteilt haben, sodass die Bundesregierung “die vertraglichen Grundlagen auch ohne förmliche Vertragsänderung” fortentwickeln darf. Allerdings meinen neben Gauweiler auch VerfassungsrichterInnen (1994), dass mit der Zustimmung zum Beitritt keineswegs eine Fortentwicklung der NATO gemeint war, sondern die 1955 bestehende NATO und die damals für Deutschland bestehenden Verpflichtungen: “Sowohl die NATO als auch die WEU sind gemäß den Gründungsverträgen Verteidigungsbündnisse. Sie richten sich mit dem Versprechen des gegenseitigen Beistands gegen bewaffnete Angriffe auf eines oder mehrere ihrer Mitglieder (Art. V des WEU- und Art. 5 des NATO-Vertrags). Die Übernahme von friedensichernden und friedenschaffenden Maßnahmen in Drittländern unter der Ägide der Vereinten Nationen ist nicht als Aufgabe im Vertragstext angelegt. Derartige Missionen lassen sich auch nicht aus den Präambeln und ihren Zielbestimmungen rechtfertigen.
Dort ist von dem Glauben an die Menschenrechte und der Entschlossenheit die Rede, im Interesse des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit einander Beistand zu leisten. Darin drückt sich jedoch nicht mehr als der selbstverständliche Wunsch aus, durch den militärischen Beistandspakt zum Wohle der Menschen und im Dienste des Friedens wirken zu wollen. Diese in ihren Konturen unscharfen Zielbestimmungen sind nicht geeignet, die Übernahme neuer Aufgaben jenseits der im Vertragstext ausdrücklich normierten Pflichten zu legitimieren.” Freilich schlagen sich solche Bedenken in der Realpolitik nicht wieder, wie Gauweiler und andere bedauern. Im Urteil zu den Tornados 2007 kommt zum Ausdruck, dass das Gericht einer “völligen Entgrenzung des Sicherheitsbegriffs mit Blick auf das Bündnisgebiet” nichts entgegensetzt, sondern meint “angesichts der heutigen Bedrohungslagen durch global agierende terroristische Netzwerke” könnten “Bedrohungen für die Sicherheit des Bündnisgebiets nicht mehr territorial eingegrenzt werden”. Dies klingt danach, dass kritische Auseinandersetzung mit Desinformationen, verdeckten Operationen und den Zielen der USA Verfassungsrichter nicht erreicht hat.
Willy Wimmer geht in einem aktuellen Kommentar ebenfalls auf die Entwicklung der NATO ein: “Krieg sollte nicht mehr sein, es sei denn zur Verteidigung und nach strengen Regeln der UN. Dem entspricht auch die eigene deutsche Verfassung und bis ins Soldatengesetz hinein sind diese Regeln des Völkerrechts verbindlich. Dies galt uneingeschränkt bis zur Änderung des strategischen Konzeptes der NATO im April 1999 in Washington. Die NATO wurde danach ausgreifend, die räumlich definierte Verteidigung wurde beiseite gefegt und der rechtliche Rahmen der Vereinten Nationen ausgehebelt. Was gilt denn nun für den Soldaten und was für die Bundeskanzlerin, wenn sie in die Verfassung, die Gesetze unseres Landes und in die vertraglichen Vereinbarungen im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung blicken?
Kommt es beim NATO-Gipfel im September 2014 noch dicker? Hat irgendjemand in Deutschland etwas davon gehört, mit welchen Vorstellungen die Bundesregierung der Großen Koalition auf diesem Gipfel ein neues strategisches Konzept der NATO mitgestalten will? Musste via Ukraine und dem gleichzeitigen Anheizen der Lage in Europa nach dem verhängnisvollen Afghanistan-Einsatz und nach dem milliardenschweren Abzug aus diesem Land auch der NATO wieder ein Sinn verordnet werden, um die Rückkehr zum eigentlichen NATO-Vertrag auf die lange Bank zu schieben und die europäischen Staaten wie Deutschland als Stationierungsgebiet für Zehntausende amerikanischer Soldaten zur Verfügung zu haben?”
Wir wissen aus Obamas Rede an der Militärakademie Westpoint, dass die USA Europa noch mehr NATO, noch mehr US-Präsenz bescheren wollen. Wimmer spricht von “Einsätzen, die dem Völkerrecht Hohn sprechen” und warnt davor, dass der Parlamentsvorbehalt für Bundeswehr-Einsätze fallen wird (nachdem man ohnehin die Wehrpflicht “ohne jede angemessene Diskussion” beseitigt hat). Dies ist jedenfalls ein Vorhaben der Koalition, um ein “lästiges Hindernis für NATO-Einsätze” bis zum NATO-Gipfel zu entsorgen. Es ist klar, dass dann nur mehr ein “Rückholrecht” für den Bundestag wirken könnte, “wenn die NATO unsere Truppen bereits in Marsch gesetzt hat? Ein solcher Beschluss würde ein Parlament voraussetzen, das wir nicht haben.” Wimmer macht sich keine Illusionen, was ein Abschaffen des Parlamentsvorbehalts bedeutet, denn dann “wird zum Zeitpunkt des Beschlusses die Regierung die Befehls-und Kommandogewalt über die Bundeswehr an den amerikanischen NATO-Oberbefehlshaber verlieren”.
Auch Gauweiler sieht den Parlamentsvorbehalt, sofern er erhalten bleibt, als wirksames Instrument an, weil er verlangt, “dass die Letztentscheidung innerhalb Deutschlands über den Einsatz der Streitkräfte an bewaffneten Einsätzen dem Bundestag vorbehalten bleibt. Damit kann der Bundestag immerhin über den konkreten Einsatz der Streitkräfte entscheiden im Sinne eines Ja oder Nein. Geht es doch um die Fragen der Fortentwicklung der NATO ist der Bundestag außen vor.” Und dies wiederum wirkt sich auf die Natur der Einsätze aus, die mit parlamentarischer Mehrheit (im Sinn der USA) beschlossen werden. Gauweiler meint abschliessend, dass man eine neue Verfassung schaffen müsste, um derzeitige (und künftige) Einsätze als mit dem Grundgesetz vereinbar zu betrachten: “Weder der Präambel noch dem Bekenntnis zu den Menschrechten in Art. 1 Abs. 2 GG kann ein weltweiter militärischer ‘Verteidigungsauftrag’ Deutschlands entnommen werden durch den die Bundeswehr global zur Durchsetzung politischer definierter Rechte eingesetzt werden könnte.
Das ist das Gegenteil des Verfassungsbefehls, dass die Wertorientierung der Bundesrepublik Deutschland in Europa und in der Welt durch Friedlichkeit bei der Konfliktlösung bestimmt sein soll. Die Bundeswehr wurde – auf der Basis historisch gesicherter Erfahrung – zur Landesverteidigung und nicht zum Moralexport gegründet, das GG ist aus dem gleichen Grund hierfür nicht die taugliche Verfassung. Denn der entscheidende Wert, der leitend sein sollte, ist doch gerade die defensive Verfassung des wiedervereinigten Deutschlands und seiner Bundeswehr. Wir müssen den ‘Verteidigungsauftrag’ unserer Armee wieder vom Kopf auf die Füße stellen. Das bedeutet nicht, dass wir unsere Bündnisverpflichtungen innerhalb der NATO und unsere Rolle in der Welt ignorieren. Der Einsatz von mehr militärischer Gewalt ist für Deutschland kein Mittel, mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen. Die Umwidmung der Bundeswehr in eine Interventionsarmee war ein Tabubruch, der mit dem historischen und verfassungspolitischen Motivation des Grundgesetzes nicht übereinstimmt. Würde diese Fehlentwicklung im Rahmen einer noch zu schaffenden EU-Armee wiederholt, wären auch noch die Korrekturmechanismen des Bundesverfassungsgerichts ausgeschaltet. In diesem Fall wäre die Bevölkerung durch eine supranationale Organisation von einer nationalen Verfassungslage abgeschnitten, die ihr im Rechtsstaat der Bundesrepublik immer noch zur Verfügung steht.”
Österreich erlangte seine Souveränität am 15.Mai 1955 per Staatsvertrag wieder, mit den Allierten als Signatarstaaten; eine Konsequenz war das im selben Jahr beschlossene Bundesverfassungsgesetz über Neutralität. Diese sollte in der Praxis nach Schweizer Vorbild ausgerichtet sein, daher hat man ein Mischsystem mit Berufskader, Wehrpflicht und Miliz. Man hat im Bereich Militär die meisten Kontakte stets zur Bundeswehr, doch auch die Entwicklung in beiden Ländern weist Parallelen auf. Im Herbst 2010 vollzog die SPÖ, die seit 2007 den Verteidigungsminister stellt, einen radikalen und plötzlichen Kurswechsel, der einen Bruch mit historisch gewachsenen Überzeugungen bedeutete. Weil im Februar 1934 Soldaten auf Arbeiter und deren Wohnanlagen schossen, trat die Sozialdemokratie für ein Heer aus dem Volk, also für die Wehrpflicht anstelle eines reinen Berufsheers ein. Ohne jede Diskussion, aber nach einer Kampagne der “Kronen Zeitung” (deren Entstehungsgeschichte an “Bild” und “Welt” erinnert, siehe Deutschland made in Amerika) und Kurzbesuchen des stellvertretenden CIA-Chefs Michael Morell (heute beim Sender CBS tätig) war die Partei auf Linie gebracht. Das nun (gegen Widerstand in den eigenen Reihen und Fassungslosigkeit vieler) propagierte Berufsheer wurde zur Volksbefragung über die Wehrpflicht “Profiheer” genannt. Man zielte darauf ab, die Mobilmachungsstärke, die per Regierungsbeschluss mit 55.000 Mann festgelegt war, auf 16.000 Mann zu reduzieren (Berufs- und Zeitsoldaten). Fällt die Wehrpflicht, gibt es keine rechtliche Grundlage mehr für die Miliz, die dann nur mehr eine reine Namensliste von Personen wäre, die man nicht mehr einberufen kann.
Zu den Berufssoldaten kommen rund 11.000 Rekruten pro Halbjahr (sechs Monate Grundwehrdienst) und 28.000 Angehörige der Miliz, die in zahlreichen Bataillonen regelmässig an Übungen teilnahmen (allerdings nicht mehr verpflichtend, sondern freiwillig). Das “Profiheer” wurde damit beworben, dass Wehrdienst “Zwang” sei und jungen Männern Einkommen und Lebenszeit stehle; man konnte beobachten, dass auch die SPÖ-Frauen in Windeseile alles vergaßen, was sie über den Gender Pay Gap und den Wandel in Erwerbsbiografien auch der Männer wussten. Mit anderen Worten, früher einmal mochten tatsächlich die meisten Männer nach Schule und Ausbildung permanent in Beschäftigung gewesen sein; heute ist dies jedoch nicht mehr der Fall, sodass man ebenso gut sagen kann, dass der eine oder andere vielleicht gerade beim Wehr- oder Zivildienst Erfahrungen macht und Kontakte knüpft, die seine Berufslaufbahn erst so richtig in Schwung bringen. Österreich würde nicht durch einen vergleichsweise deutlichen Gender Pay Gap auffallen, hätten Männer tatsächlich einen Erwerbsnachteil durch Wehr- und Zivildienst. Der Einkommensunterschied zwischen Frauen und Männern ist größer als in vielen Staaten, die die Wehrpflicht abgeschafft haben.
Beim Thema “Zwang” wussten die VerfechterInnen des “Profiheers” nie, was sie sagten sollten, wenn man wissen wollte, warum sie für “Zwang” bei Auslandseinsätzen sind. Laut Entsendegesetz (im Verfassungsrang) ist die Teilnahme an diesen Einsätzen (= Peacekeeping, keine Kampfeinsätze, noch keine!) freiwillig, und es melden sich etwa zur Hälfte Berufs- und Milizsoldaten. Freilich muss man der Debatte über feste und flexible Truppenkörper folgen können, die sich entspann, wenn Offiziere aus der “Profiheerfraktion” (von der SPÖ quer durchs Land geschickt) von “reaktionsschnellen Einheiten” schwärmten. Dies bedingt feste Truppenkörper, in denen sich dann auch eine andere Dynamik entwickelt. Man behauptete fälschlicherweise, dass die 55.000 Mann auch beim “Profiheer” beibehalten würden, verschwieg aber, dass die Miliz nicht mehr einberufen werden kann ohne Wehrpflicht (auch keinen Nachwuchs mehr hätte…) und verwirrte, indem man das Modell einer “Profimiliz” präsentierte. Diese sollte aus Frauen und Männern bestehen, die man ein halbes Jahr lang ausbildet und die dann gegen gute Bezahlung jedes Jahr mindestens zwei Wochen zur Verfügung stehen sollen. Natürlich setzte man darauf, dass eine breite Masse nicht realisiert, dass zwischen “Profimiliz” und Miliz ein grosser Unterschied besteht.
Der wahren Rechnung konnte die “Profiheerpartie” nichts entgegensetzen, denn diese lautete: Das Heer würde am 1.1.1014 nicht mehr 55.000, sondern 16.000 Mann umfassen. Die “Profimiliz” sollte bis 2025 auf 9.300 Mann “aufwachsen”, aber bis dahin wird das radikal verkleinerte Heer längst der NATO dienen, mit dem Argument, dass wir uns ja nicht mehr verteidigen könnten. Mit ins Ausland verlegten Einheiten und einer Umstrukturierung in Richtung Einsatzarmee würde auch Österreich in Zukunft am Hindukusch verteidigt werden. Das bestehende System konnte sich behaupten, weil viele Menschen entweder aus eigener Erfahrung oder aus den Erzählungen von Angehörigen und Freunden wussten, wie das Heer heute ist, und sich dafür entschieden haben, dass sie es in der bestehenden Form behalten wollen. Dass das “Profiheer” mit einer Kampagne forciert wurde, die eine verdeckte nachrichtendienstliche Aktion war, erkannten manche; vielen war einfach die Propaganda zu viel, sodass sie davon Abstand nahmen. Wenn man bestimmte Kampagnenelemente kritisch unter die Lupe nahm (wie eine rührselige Weihnachtswunsch-Aktion oder die “Frauen für ein Berufsheer”), gab es bezeichnenderweise keine Antworten.
Am 20.1.2013 machten 60% der österreichischen Bevölkerung einen Strich durch diese Rechnung. Sie entschieden, dass sie das bestehende System beibehalten wollen. Der abgelehnte Kurs wurde und wird jedoch weiter verfolgt, auch weil die Befehlskette im Bereich Landesverteidigung seit 2007 ausgehebelt ist. [...]
von Alexandra Bader, [email protected]
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Quellen – weiterführende Links
“Nato-Flagge” – Foto: © Dennis Geier / Pixelio.de
Der Artikel ist vollständig zu lesen auf Ceiberweiber.at. Dort ist am Ende noch ein längerer Abschnitt über innenpolitische Zusammenhänge und Situation in Österreich zu lesen.
weitere Fotos: © Alexandra Bader
Info zu den Bildern: Diese wurden im Herbst 2010 vor dem “Kurswechsel” der SPÖ auf dem Truppenübungsplatz Allentsteig aufgenommen, beim Manöver EURAD 10. Zu den Maßnahmen, um das Bundesheer “zurechtzustutzen”, um die Umwandlung in eine Interventionsarmee durchzusetzen, gehört neben dem drastischen Abbau an militärischen Liegenschaften auch der Versuch, Allentsteig zu zerschlagen. Denn der Truppenübungsplatz ist einer der grössten in Europa und daher eine strategische Ressource Österreichs, die auch bei Manövern mit Teilnehmern aus anderen Staaten – wie Deutschland – zum Tragen kommt. Es war für mich die letzte Gelegenheit, einen Heerestermin als Journalistin zu besuchen, da zum “Kurswechsel” auch gehörte, mir (via Kabinettschef) Kasernenverbot zu erteilen… (Was Willy Wimmer für Deutschland befürchtet – der NATO-Oberbefehlshaber als Befehlshaber der Bundeswehr – ist in Österreich also schon Realität.)
Gauweilers Rede im Wortlaut als Download www.peter-gauweiler.de