Vardenis ist stein-alt und stein-reich. Ein Prinz soll die Kleinstadt in Armenien vor mehr als 1000 Jahren gegründet haben und es gibt steinernde Zeugnisse aus der Bronzezeit. In der Nähe der Stadt wurde Gold gefunden, jedes Kind weiß davon. Stein-Reich ist Vardenis auch durch seine Lage in einem Flussbett zwischen über 3.000 Meter hohen Bergen, die im Juni immer noch schneebedeckte Gipfel haben. Warum muss ich nur an die "Desperados" denken, als ich den ersten Vardenisianern auf der Hauptstraße begegne?
Ein kräftiger Wind wirbelt an diesem Morgen an jeder Ecke Staub auf (leider nicht aus Gold!), der die Sonne verdunkelt. Außerdem zieht ein imposantes Gewitter auf. Auf der Hauptstraße ist nicht viel Verkehr, außer ein paar Lieferwagen und hier und da einem Lada aus dem letzten Jahrhundert, aber jedes Auto gibt den Staubwirbeln neuen Auftrieb. Ich sehe keine Cafés, keine plaudernden Passanten, höre auch keine Musik – ganz anders als in der Hauptstadt Eriwan. "Ja, das ist eine ganz andere Welt hier", meint mein Kollege Husik, der einmal in der Woche mit dem Team des Regionalentwicklungsprojekts in Vardenis aktuelle Anliegen bespricht. Vom World Vision-Büro nur ein paar Straßenzüge und Staubwolken entfernt stehe ich dann mit Lilith vor der Haustür ihrer elterlichen Wohnung. Das Haus und das Mädchen wollen in meinem Kopf so gar nicht zusammenpassen. Lilith ist mir während des Recycling-Kurses als besonders aufmerksames und aktives Mädchen aufgefallen. Die 16jährige nahm gleich die Leitung ihrer Arbeitsgruppe in die Hand und brachte Gastdozent Sven Grieger zum Staunen, indem sie für die anderen Teenager kurz mal die chemische Formel für Kunststoffe an die Tafel schrieb. Ich wollte sie auch näher kennen lernen, weil sie erzählt hatte, dass sie zusammen mit ihrer älteren Schwester ab und zu ihr Stadtviertel aufräume und sich einige andere Mädchen und Jungen inzwischen ihrer Umweltgruppe angeschlossen hätten. […] Lilith erklärt sich sofort bereit, mir zu zeigen, was die Gruppe gerne verändern möchte und mit welchen Schwierigkeiten sie dabei zu kämpfen hat. Das Haus, in dem Lilith aufgewachsen ist, spiegelt den ganzen Niedergang der Stadt wider. Wie ich später feststellen muss, gilt das auch für ihre Schule und die Poliklinik, in der die Mutter arbeitet. Die Haustür aus Metall steht offen und gibt den Blick in einen dunklen Gang frei. Eine Hauswand wurde mal eben schnell weiß getüncht, eine andere ist nackt und grau. Nur die gelben Sicherungskästen bringen ein wenig Farbe in den Anblick der Siedlung. "Wir haben den Mülle vor dem Haus weggräumt und versucht Blumen zu pflanzen, aber ständig wird neuer Müll hingeworfen und die Blumen werden zertreten", erzählt Lilith mit gerunzelter Stirn. Kurz darauf sehe ich, dass sie noch krassere Beispiele zu bieten hat: zwei Schrottautos, die direkt gegenüber dem Haus abgestellt wurden, ein Bach vor der Schule, der offenbar als Abfalleimer benutzt wird und dann: kleine Kinder, die im Hinterhof direkt neben einem Müllberg spielen und das eine oder andere Teil aus dem Müll direkt mit verwerten. Hier mag Lilith nicht einfach zuschauen: Sie geht hin zu den Kleinen, erklärt ihnen die Gefahren. Vom Balkon aus schaut eine Mutter zu, schreitet aber nicht ein. Dafür kracht's jetzt am Himmel. "Alles was sich außerhalb der eigenen vier Wände abspielt, ist in den Augen der Leute hier nicht ihre Verantwortung, sondern die der Regierung, und weil die Regierung jahrhundertelang oft von Fremden bestimmt war, sehen sie sich selbst nicht gefragt, um ihre eigene Stadt zu gestalten", erklärt mir Kollege Husik. "Ein Umdenken können wir am besten bei den Kindern und Jugendlichen fördern."Weitersagen :