»Desaster« für Atomwirtschaft


“Allen Sabotageversuchen an der Energiewende durch Regierung und Stromkonzerne zum Trotz: Wind, Sonne, Wasser und Bioenergie waren in den ersten neun Monaten des Jahres die wichtigste Stromquelle in Deutschland. Sie lieferten einen Anteil von 27,7 Prozent an der elektrischen Energie – und toppten damit knapp die Braunkohle, deren Anteil bei 26,3 Prozent lag. Steinkohlekraftwerke lieferten 18,5 Prozent, Gaskraftwerke 10,4. Die Atomkraft liegt bei 16 Prozent.

Im vergangenen Jahr hatten die Erneuerbaren Energien mit 23,4 Prozent noch hinter der Braunkohle auf Platz zwei gelegen. Die aktuellen Daten wurden am 1. Oktober vom Netzwerk »Agora Energiewende«, einer Initiative der European Climate Foundation und der Stiftung Mercator veröffentlicht. Den größten Beitrag der Regenerativen Energien lieferte demnach Windstrom mit 9,5 Prozent, gefolgt von Biomasse mit 8,1 Prozent. An dritter Stelle steht Solarstrom mit 6,8 Prozent. Zu einzelnen Stunden steuerte die Sonne allerdings mehr als ein Drittel der in Deutschland verbrauchten elektrischen Energie bei. Am 6. Juni, dem Tag mit der höchsten Solarleistung des Jahres, wurden 24,2 Gigawatt Solarstrom in die Netze eingespeist. Das entspricht der Leitung von etwa 20 großen Atomkraftwerken. Neun AKW sind zur Zeit in der Bundesrepublik noch im Betrieb.

Prämie für Netzentlastung

Auf seiner Homepage stellt Agora Energiewende tagesaktuell auch Stromexporte und Importe in alle Nachbarländer sowie die Spotmarkt-Preise für Strom an der Strombörse Epex dar. So ist gut zu erkennen, wie es zu negativen Strompreisen kommt. Zum Beispiel lieferten am Nachmittag des 11. Mai 2014 Windkraft, Sonnenenergie, Wasserkraft und Biomasse 44 Gigawatt Strom und damit rund 75 Prozent des Verbrauchs, der bei 57 Gigawatt lag. Zur gleichen Zeit speisten aber nach wie vor konventionelle Kraftwerke ins deutsche Netz ein. Der Überschuss von rund 11 Gigawatt wurde komplett exportiert – bei einem Preis von minus 5,9 Cent pro Kilowattstunde.

»Man sieht an den Daten vom 11. Mai, dass bei hoher Leistung Erneuerbarer Energien die Gas- und die Steinkohlekraftwerke ihre Stromerzeugung auf ein Minimum reduziert haben«, sagt Agora-Direktor Patrick Graichen. Atom- und Braunkohlekraftwerke seien jedoch offensichtlich nicht in der Lage gewesen, ihre Leistung stärker zu drosseln. Das habe zu einem Überschuss an Strom und damit zu sogenannten negativen Strompreisen geführt: Abnehmer bekamen 5,9 Cent pro Kilowattstunde, wenn sie Strom verbrauchten, um das Netz zu entlasten.

Druck auf RWE und E.on

Die Atomwirtschaft verfolgt die Entwicklung mit großem Unbehagen. So bezeichnete der Chef des französischen Elektrizitätskonzerns EDF, Henri Proglio, den deutschen Energiemarkt als »Desaster«. Die zwei seiner Meinung nach »wichtigsten Unternehmen« RWE und E.on stünden unter »riesigem Druck”. Grund sei die deutsche Abkehr »vom gewinnträchtigen Atomstrom hin zu Ökostrom mit weniger großen Gewinnaussichten« für die Konzerne.

Atomkraftgegner sehen das natürlich anders. Trotz zahlreicher Hemmschwellen wie die Abschaffung von Vergütungen und Förderungen lasse sich die Energiewende in Deutschland nicht bremsen. »Auf Atomkonzerne, die jahrzehntelang Milliardengewinne eingestrichen haben und nun in Zeiten der Veränderung stöhnen, darf dabei keine Rücksicht genommen werden«, erklärte Jan Becker von der Organisation »contrAtom«. »Denn sie hinterlassen den Folgegenerationen einen riesigen Atommüllberg, für den es keine Entsorgungslösung und schon heute absehbare Finanzierungsengpässe gibt«. Es sei ein Armutszeugnis, dass sich die Bundesregierung und die meisten deutschen Vertreter im EU-Parlament nicht stärker für die Energiewende in Europa einsetzten. Sondern stattdessen – wie vergangene Woche geschehen – staatlichen Subventionen für den Neubau des Atomkraftwerks Hinkley Point in England zustimmten. In Deutschland hat sich die Bundesregierung bislang das Ziel gesetzt, den Ökostromanteil bis 2020 auf mindestens 35 Prozent zu steigern. Angesichts der Steigerung von zuletzt 4,3 Prozentpunkten im Jahr ist dies kein ehrgeiziges Ziel: Bliebe das Wachstum auf diesem Niveau, könnte der Anteil in sechs Jahren mehr als 50 Prozent betragen”

www.agora-energiewende.de

Quelle: https://www.jungewelt.de/inland/%C2%BBdesaster%C2%AB-f%C3%BCr-atomwirtschaft


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