Des Kaisers neue Kleider

Von Stefan Sasse

Im Märchen "Des Kaisers neue Kleider" verkauft ein findiger Geselle dem Kaiser die titelgebenden neuen Kleider, die in Wahrheit gar nicht existieren. Ab da läuft der Kaiser nackt herum. Da der Verkäufer erklärte, dass nur kluge Menschen die Kleider sehen könnten, tun natürlich alle so, als ob sie sie sehen könnten, bis ein Kind in seiner Unschuld alles aufdeckt. Wenn es für Angela Merkel schlecht und für Europa gut läuft, so könnten die Wahlen in Frankreich und Griechenland für ihre Austeritätspolitik genau diesen Effekt haben. Im Falle Frankreichs gibt es bereits erste Anzeichen dafür; sollte Griechenland sich dazugesellen, so dürfte ihr der Austeritätsladen um die Ohren fliegen. Das gesamte Paradigma der Austeritätspolitik, die Merkel Europa im Bündnis mit Sarkozy in den letzten drei Jahren aufzwang, beruht auf der Alternativlosigkeit dieser Politik. Sie ist unpopulär, tut weh und schadet der Wirtschaft. Einen solchen Kurs kann man nur fahren, wenn die Alternative hinreichend diskreditiert ist. Das gelang dank der Dominanz der entsprechenden Denkrichtung in der Ökonomie, in der Leitbilder wie die von Krugman so treffend verspottete "confidence fairy", also die Zuversichtlichkeits-Fee, die quasi auf magische Weise das Wachstum ankurbelt wenn "die Märkte" nur fest genug an die Inflationsbekämpfung der Zentralbank glauben, bislang relativ gut.


Nur, mit Ausnahme Deutschlands, das als fette Spinne im Netz bislang von den herbsten Auswirkungen der Austerität verschont blieb, sind die Bevölkerungen Europas mehrheitlich reichlich unzufrieden mit dieser Politik und glauben, ebenfalls im Gegensatz zu Deutschland, nicht an die Alternativlosigkeit. Oder sie sind verzweifelt genug, dass es ihnen mittlerweile egal ist. Merkels große europapolitische Koalition, die auf einem Bündnis der konservativen Staatschefs von Frankreich über die Niederlande nach Italien und Griechenland beruhte, ist auseinandergebrochen. In jedem Land, das seither gewählt hat, wurde die Regierung abgewählt. Erst zerbrach die Rechtskoalition in den Niederlanden, dann wählte Frankreich den Merkel-Gegner Hollande, der mit dieser Opposition dezidiert Wahlkampf betrieb, und nun haben die beiden vormals größten Parteien Griechenlands, die gemeinsam eine Art Notregierung zur Durchführung der drakonischen Maßnahmen betrieben hatten, nicht einmal mehr mit dem Gewinnerbonus eine gemeinsame Mehrheit (in Griechenland bekommt die stärkste Partei 50 Sitze extra, was in diesem Fall fast einer Verdopplung d

er gewonnen Mandate für die Konservativen entspricht, ohne dass dies ihnen helfen würde).
Das überraschende - der Neue-Kleider-Effekt sozusagen - ist die Reaktion "der Märkte". In düstersten Tönen war der Zusammenbruch vorausgesagt worden, wenn die auf die Austeritätspolitik eingeschworenen Regierungen ihre Mandate verlören. Bisher ist in den Niederlanden kein Chaos ausgebrochen. Die französischen Börsenkurse stiegen sogar leicht. Nun starrt alles gebannt auf Griechenland. Sollte sich die Situation von Hollandes Wahlsieg verstetigen und Frankreich keine negativen Effekte durch "die Märkte" erleiden, wenn es neben der Spar- auch eine Wachstumspolitik initiiert, so wird bereits ein Schleier von Merkels Politik gerissen. Sollte, was durchaus nicht unmöglich, ja nicht einmal unwahrscheinlich ist, die Anleihesituation für Frankreich sogar besser werden, so fällt ein enormer Eckstein aus Merkels Gebilde. Es hängt dann von der Europäisierung der Öffentlichkeiten in der EU ab, wie viel Bedeutung dem beigemessen wird; es könnte aber durchaus ein Dammbruch werden. Sollte sich dieses Spiel in Griechenland wiederholen, wo die zur Regierungsübernahme entschlossenen Parteien bereits ihre kategorische Ablehnung einer weiteren Durchführung der Sparpolitik bekundet haben, so stünde Merkel nackt da. Es bräuchte dann nur noch ein Kind, das mit dem Finger auf sie zeigt und es allen deutlich macht.


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