Der Weg zum "europäischen" Grundgesetz

Von Stefan Sasse
Einige besonders hellsichtige Zeitgenossen haben bereits im September 2011 die Möglichkeit eines neuen Grundgesetzes nach Artikel 146 ins Spiel gebracht, um die vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Grenzpfeiler für eine weitere europäische Integration umzustoßen. Ich habe bereits damals den Gedanken konkretisiert, eine Art Verfassungskonvent einzuberufen. Inzwischen jedoch ist der Artikel 146 in aller Munde und keine reine Gedankenspielerei mehr. Spätestens seit Schäuble verkündet hat, dass er sich eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung vorstellen könne, dämmerte es auch dem letzten Beobachter, dass die Euro-Krise für Deutschland wohl mehr als monetäre Folgen haben wird. Die Diskussion drehte sich dabei hauptsächlich um das Schäuble-Wort vom Volksentscheid, das Merkel in einem ihrer üblichen Wischi-Waschi-Dementis entschärfte. Der Geist ist seither kaum in die Flasche zu bekommen, und die mannigfaltige Kritik kommt aus allen Richtungen. Eher konservative, der Regierung und ihren Vorhaben nahestehende Kräfte befürchten eine Ablehnung durch den uninformierten Mob, eher links gerichtete Kritiker befürchten eine Verfassungsänderung in konservativem Sinne durch die Hintertür. Die Zögerlichkeit Merkels, die Volksabstimmungsidee aufzugreifen, passt zudem gut in die Vorwürfe der Entdemokratisierung von Politik im Rahmen Europas. In diese Stimmung platzte nun Bundestagspräsident Lammert, der erklärte, dass es eigentlich keiner Volksabstimmung bedarf, sondern auch eine verfassungsgebende Versammlung reiche. Dieses Argument ist dasselbe, das bereits Steinbeis in seinem Artikel vergangenen September gebracht hat. Es muss keinesfalls demokratiekritische Reflexe wecken, denn eine solche Versammlung wäre keinesfalls undemokratischer als eine Volksabstimmung. Tatsächlich spricht vieles dafür, dass das Ergebnis sogar demokratischer wäre.
Das klingt zuerst einmal widersinnig, ist es doch Mode, in direkten Abstimmungen einen Gewinn an politischer Transparenz und Partizipation zu sehen. Das aber ist mitnichten der Fall. Nur einmal angenommen, eine neue Verfassung soll nach Artikel 146 einem nationalen Referendum unterworfen werden - wer macht denn diese Verfassung überhaupt? Wahrscheinlich würde sie tatsächlich von der Regierung gestrickt, mit Beteiligung des Bundesrates und damit der SPD, irgendwo zwischen den Ausschüssen und Sonderparteitagen (wenn überhaupt). Am Ende bliebe dem Volk dann die Wahl zwischen Pest und Cholera - der vollständigen Annahme eines Dokuments, auf den es keinen Einfluss hatte, oder seiner Ablehnung und unabsehbarer Folgen. Eine verfassungsgebende Versammlung dagegen stünde in einer langen deutschen Tradition - 1848, 1919 und 1949 wurden jeweils solche Versammlungen einberufen, und die Produkte dieser Versammlungen waren alles andere als undemokratisch. Auch die amerikanische Verfassung wurde von einer solchen, extra einberufenen Versammlung ausgestaltet verabschiedet, und die französischen Revolutionäre haben genauso auf eine Volksabstimmung verzichtet. Eine solche ist eher die Ausnahme als der Normalfall und findet sich eher unter Diktaturen, die sich damit den Anschein von Legitimation geben wollen und regelmäßig Zustimmungsquoten im oberen 90%-Bereich einfahren. Warum aber, neben dieser quasi historischen Aura, könnte eine solche Verfassung demokratischer als ein Volksentscheid sein? 
Es gibt prinzipiell zwei sinnvolle Varianten, eine solche Versammlung einzuberufen. Die eine ist der Weg von 1848 und 1918, die direkte Wahl. In unserem Falle würde bestimmt werden, wie viele Abgeordnete es insgesamt geben soll, und vermutlich würden diese größtenteils oder ausschließlich von den Parteien bestimmt (Listenwahl). Diese Variante ist die tendentiell demokratischere, weil das Volk direkte Repräsentanten bestimmt. In der anderen Möglichkeit entsenden die Landtage Vertreter, wie sie dies bereits 1949 getan haben oder wie es die amerikanischen Länderparlamente 1787 taten. Beide Möglichkeiten haben Vor- und Nachteile. Die Legitimation ist, wie gesagt, bei der Direktwahl höher, da die Länderparlamente einen starken Filter darstellen: Sie wurden zwar bereits einmal gewählt, aber nicht für diese Aufgabe, der Wähler konnte seine Entscheidung daher darauf nicht aufbauen. Eine demokratische Legitimation nach Artikel 146 wären aber beide Lösungen (sonst wäre das Grundgesetz selbst ja auch nicht legitimiert). Eine Bestimmung der Versammlung durch die Länderparlemente hätte den Vorteil, dass die Auswahl der Vertreter etwas mehr von reiner Eignung abhängig gemacht werden könnte, da man keine wahlkämpfenden Rampensäue ins Feld senden müsste, andererseits besteht dafür natürlich keine Garantie. Es ist aber anzunehmen, dass die Parteien - vielleicht mit Ausnahme der NPD - ohnehin verfassungsrechtliche Experten ihrer Couleur auf die Listen packen würden.
Auf diese Art und Weise würde eine Debatte stattfinden und ein demokratischer legitimierter Prozess vonstatten gehen. Denn die reine Volksabstimmung, eine pure Akklamation, würde einer rein exekutiv ausgearbeiteten neuen Verfassung keine Legitimation geben, im Gegenteil. Die Gegner würden, selbst wenn sie angenommen würde, ihre Legitimität stets und grundsätzlich bezweifeln. Eine Versammlung dagegen, die eine entsprechend hohe Abstimmungshürde hätte - mindestens Zwei-Drittel - und daher auf echte Kompromisse angewiesen wäre, ist die deutlich bessere Wahl. Es versteht sich fast von selbst, dass so viele Parteien wie möglich eingebunden werden müssten. Selbst wenn SPD und CDU die zwei Drittel alleine erreichen würden - eine Verfassung, die von vier von sechs Parteien, die aktuell mit 5% oder mehr Wählerstimmen rechnen könnten, abgelehnt wird, litte unter denselben Problemen und kann daher nicht Ziel sein. 
Eine solche neue Verfassung müsste sich dabei kaum vom Grundgesetz unterscheiden. Wichtig wäre lediglich, dass es die vertiefte europäische Integration bis hin zur politischen Union erlaubt, ohne Festhalten an nationalen Souveränitätsrechten nur um ihrer selbst willen. Diese Vertiefung kann dafür ausschließlich über das Europäische Parlament erfolgen. Soll die vertiefte europäische Integration Erfolg haben, so müsste sie die elementaren demokratischen Rechte weiterhin erhalten. Ja, dazu gehört das zum goldenen Kalb erhobene Budgetrecht des Parlaments, aber prinzipiell die Beteiligung gewählter Volksvertreter. Derzeit, und das ist der größte Kritikpunkt in puncto demokratische Legitimierung am ESM, läuft viel zu viel über die Exekutivorgane. Diese sind zwar von gewählten Regierungen bestellt, sind aber dem Wähler in ihrer jeweiligen Variante nicht verantwortlich. Das muss sich ändern, und auch nur eine solche Änderung kann ein stärkeres, auch politisches, europäisches Bewusstsein bringen. Sollte das Ergebnis einer deutschen verfassungsgebenden Versammlung in diese Richtung gehen, wäre dies ein starkes Signal auch für das restliche Europa, sich anzuschließen. In der aktuellen Situation die nationale Souveränität aus polittaktischen Erwägungen zu überhöhen ist sehr kurzfristig gedacht und kann sich langfristig nur rächen.

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