Es gibt einen bekannten und auch verständlichen Reflex in Deutschland. Irgendwer nimmt das Wort “Konzentrationslager” in den Mund, und es entsteht ein Aufruhr. Der rechte Autor Akif Pirincci ging auf der Pegida-Kundgebung am 19. Oktober 2015 noch einen Schritt weiter und verkündete, die Konzentrationslager seien ja derzeit leider außer Betrieb. Der Halbsatz war Teil einer Hassrede auf Politiker und Flüchtlinge, und alle waren sich schnell einig: Pirincci beging damit wohl Volksverhetzung. Ich dachte das auch, bis ich mir den Wortlaut der Passage und den Kontext vornahm und damit ein sträflich vernachlässigtes journalistisches Gebot beachtete. Seither steht für mich fest: Die Äußerung über die Konzentrationslager selbst ist keine Volksverhetzung. Ich werde das erklären, und Philipp Jenninger würde mich verstehen.
Drauf gebracht hat mich das Satiremagazin Titanic. In einem Beitrag über Pirincci hieß es unter Anderem: “Akif Pirinçci hat es geschafft: Die “Lügenpresse” nimmt seine KZ-Provokation von vorgestern wie geplant dankend auf, reißt sie aus jedem Zusammenhang und bedient damit genau die Ressentiments, die seinen Erfolg und den der beschissenen Pegida-Bewegung erst möglich machen.” Ich stutzte: Eine KZ-Äußerung als Falle für die Presse? Sollte er am Ende als der strahlende Held aus der Sache hervor gehen? Mir war bewusst, dass der Halbsatz nicht allein stand, dass er sich möglicherweise gegen deutsche Politiker richtete, nicht gegen Flüchtlinge. Aber jedes Bedauern über die Schließung der NS-Konzentrationslager erfüllt doch den Tatbestand der Volksverhetzung? Es half nichts, ich musste mir den Text der Rede genauer vornehmen. Was hatte Akif Pirincci tatsächlich gesagt? Eine Textfassung des gesamten Ausschnitts fand ich zwar nicht, aber es existiert ein verständliches Video. Er beschreibt eine Infoveranstaltung im nordhessischenLohfelden. Das Regierungspräsidium informierte über ein Erstaufnahmelager, das dort errichtet wird. Als ein besorgter Bürger laut: “Aber das wollen wir nicht” rief, hielt ihm der kasseler Regierungspräsident Dr. Walter Lübcke (CDU) entgegen: “Wer diese Werte nicht vertritt, kann dieses Land jederzeit verlassen.” Diese Äußerung Lübkes kommentierte Pirincci mit den folgenden Worten: “Offenkundig scheint man bei der Macht die Angst und den Respekt vor dem eigenen Volk so restlos abgelegt zu haben, dass man ihm schulterzuckend die Ausreise empfehlen kann, wenn er gefälligst nicht pariert.” Das ist natürlich grammatisch falsch, es müsste heißen, wenn *es* gefälligst nicht pariert, das Volk ist gemeint. Nach einigen Rufen wie “Volksverräter” und “Widerstand” aus der Menge, fuhr Pirincci fort: “Es gäbe natürlich andere Alternativen, aber die KZ’s sind ja leider derzeit außer Betrieb.” Damit gibt Pirincci ein angebliches Bedauern Lübckes wieder, dass er seinem deutschen Volk nur die Ausreise empfehlen kann, weil ihm andere Alternativen derzeit nicht zur Verfügung stehen. Pirincci unterstellt also dem kasseler Regierungspräsidenten volksverhetzende Gedanken, äußert sie aber nicht selbst. Der Satz ist Teil eines Angriffs auf die deutschen Politiker, die seiner Meinung nach die sogenannte “Umvolkung” Deutschlands im Sinn haben, einen Volksaustausch zugunsten der Flüchtlinge. Die Äußerung selbst erfüllt damit meiner Ansicht nach keinesfalls den Straftatbestand der Volksverhetzung, denn sie gibt nicht die Meinung des Autors wieder. Wenn die Staatsanwaltschaft Dresden juristisch korrekt zum selben Ergebnis kommen sollte, so steht Pirincci am Ende dieser Affäre als der strahlende Sieger da, und die Medien und die Politiker, die ihn der Volksverhetzung bezichtigten, sind wieder einmal die Lügen- und Systempresse und die korrupten Volksverräter.
Deshalb ist es höchste Zeit, sofort klarzustellen, dass die Äußerung selbst zwar missverständlich, kompliziert formuliert und bewusst schwammig gehalten ist, aber nicht an sich strafbar. Es ist wichtig, in aller Deutlichkeit klarzustellen, dass Akif Pirincci dieses Aufhebens auch gewollt haben könnte, dass es seine Popularität letztlich im rechten Lager steigern könnte. Denn natürlich strotzt die Rede des umstrittenen Autors vor Hass und Beleidigungen gegen Flüchtlinge und Politiker. Dass er mit seiner missverständlichen Äußerung haarscharf an der Volksverhetzung vorbei strich, macht seinen Auftritt in Dresden nicht weniger aggressiv, menschenverachtend oder gefährlich. Im Gegenteil: er bedient sich des subtilen Mittels der Auslösung einer Massenhysterie, weil er weiß, dass er am Ende mit einer weißen Weste dastehen könnte. Er nutzt eben jenen deutschen Reflex aus, Äußerungen über die Nazizeit sofort für justiziabel zu halten, um sich nur ja nichts nachsagen lassen zu müssen. Es ist ein Ausdruck der Angst in unserem Land.
In unserem verständlichen Wunsch, die Pegida-Bewegung dort zu packen, wo es weh tut, wo sie unsere Grundwerte verletzt und mit Füßen tritt, sollten wir selbst uns aber an diese Werte halten. Es ist in Ordnung, dass die Staatsanwaltschaft die Äußerung prüft, aber so manches Presseorgan und mancher Blogger, ich selbst eingeschlossen, hat hier doch eine unzulässige Form der Vorverurteilung begangen, weil der textliche Gesamtzusammenhang nicht ausreichend geprüft wurde. Solch ein Versäumnis hat den ehemaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger einmal das Amt gekostet, und auch damals ging es um das Nazi-Thema.
Ich will mich damit überhaupt nicht in den Chor jener einreihen, die mit der Pegida-Bewegung diskutieren wollen, die deren angebliche Sorgen ernst nehmen wollen. Es ist kaum möglich, Pegida zu überzeugen oder sie in den normalen demokratischen Prozess einzugliedern. Dafür haben sie sich bereits zu weit außerhalb unserer demokratischen Spielregeln aufgestellt. Aber wir müssen ihnen durch eine ungerechtfertigte Hetzjagd auf einen ihrer Exponenten nicht auch noch Munition in die Hand geben.
Vielen Dank, verehrte Titanic.
p. S.: Ein Beitrag auf Vice.com war noch etwas schneller als ich und liefert einige interessante Gedanken.