ARTus-Kolumne »So gesehen« Nr.545
Fast wäre er mir im geschichtsträchtigen Nebelmonat November abhanden gekommen. Peter Weiss, der aufmerksame, undogmatische Grenzüberschreiter der Künste; in Deutschland geboren, in Schweden verstorben, mit dem Ausweis der Akribie versehen. Ein Linker, der keine Vorurteile kannte, der auch und gerade unbequeme Wahrheiten benannte, der die in den Orkus der Geschichte verbannten Namen von Münzenberg bis Trotzki, den »Verrätern und Volksfeinden«, den politischen Sündenböcken! der Vergessenheit entriss, dass Nichts und Niemand vergessen werde.
Seine Romantrilogie »Die Ästhetik des Widerstands«, zunächst bei Suhrkamp in Frankfurt am Main 1975 bis 1981 erschienen, unfassbarer Weise sogar in der DDR, im Henschelverlag Kunst und Gesellschaft 1987, steht als Beleg dafür. Ich habe mit viel Glück die mit signalroten Einbänden umhüllten Bände der Zweitauflage für damals nicht unerhebliche 39,80 Mark kaufen können. Ich habe sie verschlungen, Satz um Satz, Wort für Wort. Ganze Absätze sind unterstrichen, wieder und wieder mit Ausrufezeichen versehen. Verwundert blätterte ich dieser Tage in ihnen, las mich fest, erinnerte mich.
Ohne die Weiss-Lektüre, ich bin mir sicher, hätte ich kaum zu meinen Worten im November 1989 gefunden, endlich den Mut aufgebracht auch darüber öffentlich zu reden, was bislang, mit Tabustempeln versehen, nicht zugänglich war, das nur in kleinen Zirkeln, wenn überhaupt, diskutiert wurde.
Peter Weiss lieferte »Abdrücke der Geschichte«, außer Namen auch Argumente, so gesehen Munition für die Wende, die manche noch heute mit dem irrlichternden Wort »Revolution« versehen. Wohl eher versehentlich!
Ich wüsste heute gern, wer die Erstauflage der Romantrilogie beziehen konnte. Einen Band Zwei der Zweitauflage spürte ich unlängst im Bücherhotel Groß Breesen auf. Er trägt einen kleinen Bücherstempel, der das Buch zuordnet dem Bestand der »Kreisbibliothek Lübz«. Den Band hat nicht ein Leser geordert. Es finden sich nur Leerspalten. Das Buch mit der Registriernummer 404 wurde nicht ausgeliehen! Es ist als »Makulatur« mit der Wende entsorgt worden, unter Mengen von Bücherbergen verschwunden und mit ihm kostbare Namen von Autoren, die wir nicht vergessen dürfen, damit uns der braune Sumpf mit all seiner irregeleiteten Gefolgschaft in einem Jahrhundert der womöglich totalen Entwurzelung nicht wieder einholt.
Peter Weiss: »… und da war Brecht schon dabei, ein Überlebender war er, schrecklich in seiner Nähe die Stille um Toller, Ossietzky und Tucholsky, und um Mühsam, den sie erdrosselt, aufgehängt hatten im Klosett in Oranienburg. Und es kam Lorca, blutüberströmt, aus einer Sandgrube kam er, am Rand des Dorfs Viznar… und all die Unbehausten und Umhertreibenden, die Verstoßenen und Befehdeten, auf ein Visum wartenden, irgendwohin…«
Geben wir ihnen endlich dauerhaft Asyl, ein Aufgehobensein in unseren Herzen und Hirnen, für immer. ARTus
Zum Geburtstag des Schriftstellers und Künstlers Peter Weiss (8.11.1916 – 10.5.1982) Zeichnung: ARTus