Stellen wir uns vor, die medial vernetzte Gesellschaft als virtuelles Staatsgebilde zu betrachten. Freilich wäre dieser virtuelle Staat mit gänzlich anderen Regeln und Zielen ausgestattet als die Staatsgebilde der physischen Welt. Die Gründung dieses Staates müsste nicht einmal in einer feierlichen Zeremonie proklamiert werden, obwohl dessen Einwohner- beziehungsweise Userzahl und dessen volkswirtschaftliche Potenz größer wäre als die der meisten Nationen unserer Erde.
Staatsrechtler würden sicher zahlreiche berechtigte Einwände gegen eine solche Überlegung vorbringen: Wäre ein solcher Staat völkerrechtlich überhaupt möglich? Würden andere Staaten eine solche individualistische Union anzuerkennen? Wer wäre der Präsident dieses virtuellen Staates? An welchem Ort wäre dessen Regierungssitz? Hätte dieser Staat überhaupt eine fest geschriebene Verfassung? Und wenn es eine Verfassung gäbe wäre diese demokratisch? Würde von einem solchen Staat eine Gefahr ausgehen?
Außerdem, so würde man argumentieren, gab es ja schon früher experimentelle (und gescheiterte) Staatsgründungen, wie die des Österreichischen Künstlers Edwin Lipburgers, der 1976 mit einem Kugelförmigen Haus die "Republik Kugelmugel" bei Wiener Neustadt ausrief. Das Projekt löste damals einen heftigen Rechtsstreit in Österreich aus. Wegen Amtsanmaßung wurde Lipburger schließlich drei Jahre später zu 10 Monaten Gefängnis verurteilt. Heute steht das Gebäude als Jahrmarkts-Kuriosum auf dem Wiener Prater. Andere Gründungen wie die der Umweltorganisation Greenpeace verfolgten ein politisches Ziel nämlich die Ölförderung in der Nordsee zu blockieren. Greenpeace besetzte einen 25 Meter breiten und 20 Meter hohen Felsen, 450 Kilometer vor der Küste Schottlands und rief den Internet-Staat "Waveland" aus. Die selbsternannte "Daten-Oase" konnte zwar der Brandung des Meeres standhalten nicht aber dem Datenverlust, der durch die Liquidation ihres Providers erfolgte. Heute spricht Waveland nur noch von einem "imaginären Raum".
Ganz anders aber würde es sich mit dem neuen virtuellen Staat verhalten:
Er verzichtet darauf sich selbst auszurufen, weil es niemand gibt, der ihn ausrufen könnte. Er verzichtet auf eine zentrale Organisations Struktur, weil seine rhizomatische Struktur unsichtbar und damit unverwundbar macht. Er bietet maximale Freiheit, auch wenn die Freiheit im Netz durch Googles Machtmonopol gefährdet ist. Dieser Staat verzichtet sogar darauf, offiziell physisches Land zu beanspruchen, abgesehen von den gekühlten Standorten der Server.
Dummerweise hat Deutschland kein einziges Internet Start-Up hervorgebracht, das in der Kategorie von Google, Facebook, Twitter, YouTube oder ähnlichen Internet Majors mithalten könnte. Darum überlegt man nun hierzulande, wo denn genau die "rote Linie" sei, die von Google & Co nicht überschritten werden darf. Es erscheint geradezu wie ein hoffnungsloser Versuch einer Wolke eine Din-Norm zu verpassen. Während also die Grenzen der physischen Staaten durch Flüsse, Berge, oder entlang alter Schlachtlinien gebildet wurden, kennt dieser virtuelle Staat keine Grenzen.
Zudem: Selbst wenn die User des virtuellen Staates auch gleichzeitig noch Staatsbürger eines physischen National Staates sind, würde das das nicht zwingend bedeuten, dass diese sich dem Gemeinwohl beispielsweise Deutschlands verpflichtet fühlen.
Wäre dieser Staat, nur eine Fiktion? Nein, denn dieser virtuelle Staat würde nicht im Gegensatz zum Realen stehen, sondern zum Physischen, denn zweifelsohne bilden die elektronischen Systeme keine fiktive oder irreale Welt, sondern wirken direkt in der physischen Welt - mit teilweise dramatischen Konsequenzen, wie beispielsweise die Finanzkrise zeigte. Zahlreiche Menschen haben dabei ihr physisches Zuhause verloren. Nur Facebook und Twitter würden ihnen als "virtuelles Zuhause" verbleiben, bis auch die letzte Kreditkarte eingezogen wäre.
Stellen wir uns also vor, dass dieser "virtuelle Staat" mit all jenen, die den physischen National Staaten den Rücken gekehrt haben, nun damit beginnt die physische Welt zu kolonialisieren. Neue Regeln würden sich qua ihres technischen Erscheinens etablieren. Veraltete nationale und regionale Gesetze der alten National Staaten würden so wirkungslos sein wie der Tanz eines indianischen Medizinmannes bei der Ankunft der ersten spanischen Galeere.
Gerade hat der Bundesdaten-Gipfel in Berlin statt gefunden. Dabei setzt die Politik in Deutschland auf eine nationale Datenschutzregelung und auf die Selbstregulierung durch den Markt. Das darf als Kapitulation verstanden werden! Selbst wenn dann die virtuellen Kolonialherren ein paar Krokodilstränen vergießen werden, kann man davon ausgehen, daß es sie am Ende des Tages ziemlich kalt lassen wird.