Der US-Schuldenstreit

Von Stefan Sasse

Eine amerikanische Tragödie

Inauguration Obamas, 20.01.2009

Als Barack Obama im Jahr 2008 antrat um Präsident der USA zu werden versprach er, "change" zu bringen. Dieser "change" erwies sich, zusammen mit "Yes we can" und "Hope" zu den Schlagern des Wahlkampfs und begeisterte Massen, besonders die Jungwähler, in einem Ausmaß wie das vorher nicht möglich erschienen war. Aufmerksame Beobachter warnten schon damals davor, dass die Sause nicht würde ewig gehen können und dass Obama, wenn er erst im Weißen Haus wäre, keine Chance haben würde den gigantischen Erwartungen gerecht zu werden, die er geweckt hatte. Man muss ihm zugute halten dass er auch nie behauptet hat, sie alle erfüllen zu können, auch wenn es viele gehofft hatten. Ein Jahr vor den nächsten Präsidentschaftswahlen sieht seine Bilanz allerdings, gegen das Programm mit dem er angetreten war gestellt, mehr als düster aus. Erinnern wir uns: change beinhaltete mehrere große Programmpunkte, einige in den Begriffen klassischer Politik greifbar, einige eher stilistischer und mentaler Natur. Zu ersterer Kategorie gehörten der Rückzug aus dem Irak, die Aufstockung Afghanistans und ein erfolgreiches nation-building dort, eine umfassende Gesundheitsreform, eine Konjunkturpolitik zur Stützung der Wirtschaft und eine Beteiligung der Wallstreet an den Kosten der Finanzkrise. Zu der zweiten Kategorie gehörte ein freundlicheres Klima in der US-Außenpolitik und eine Rückkehr zum Multilateralismus sowie eine deutlich erhöhte Partizipation und Transparenz im Regieren (das eigentliche Kernstück von change). Was ist zwischenzeitlich passiert? 
Um das zu verstehen muss eine Sache deutlich gemacht werden: Obamas Programm war, wie das in der Politik immer ist, ein Wahlprogramm. Er würde nicht alles davon umsetzen können, sondern würde mit verschiedenen Vetospielern agieren müssen - unter anderem dem Kongress, der zwar über eine demokratische Mehrheit verfügte, deswegen aber noch lange nicht eine sichere Bank im Obama-Lager war, nehmen die Amerikaner die Gewaltenteilung doch etwas ernster als wir Deutschen. Ohnehin rutschte ein Thema bereits in die Spätphase des Wahlkampfs und die Übergangsperiode zwischen Wahl und Inauguration (transition): die Finanzkrise. Sie dürfte Obama nicht auf dem Tableau gehabt haben, und obwohl er nichts dafür konnte, schränkte sie seinen Handlungsspielraum bereits entscheidend ein. Die Rettung der Banken und Versicherungen, insbesondere AIG, Fanny Mae und Freddie Mac, verschlang Unsummen. Da die Realwirtschaft gleichzeitig in eine Rezession bedrohlichen Ausmaßes rutschte,  initiierte Obama den American Recovery and Reinvestment Act ARRA, der mit fast 1000 Milliarden schuldenfinanzierten Konjunkturspritzen die Arbeitslosigkeit in Grenzen halten sollte. Das prestigeträchtigste Projekt im Rahmen der ARRA war dabei die Rettung von General Motors, die sich letztlich als Erfolg der Regierung herausstellte. 

Eine amerikanische Tragödie

Unterzeichnung des ARRA, 17.02.2009

Trotzdem war die Rettung ein gigantisches Problem. Nicht nur engte sie die fiskalischen Spielräume bedenklich ein und ließ alle Ambitionen für die Gesundheitsreform im Nichts verschwinden, sie erlaubte es den Republikanern außerdem, ihrer Basis gegenüber die Schuld für die Finanzkrise und wirtschaftliche Misere wenigstens zu einem Teil den Demokraten aufzuladen, die im Gegensatz zu Bush jr. nicht einfach abwarten konnten bis jemand anderes den Dreck aufkehrte. Die Regierung hatte damit von Anfang an einen politischen Mühlstein um den Hals. Immerhin, das Problem wurde schnell und entschlossen in Angriff genommen. Progressive Kritiker wie Krugmann oder Stiglitz forderten mutigere, umfangreichere Programme. Trotzdem konnte, wie auch in Deutschland, zumindest das Schlimmste verhindert werden. Eine ökonomische Katastrophe wie die Krisenpolitik der frühen Reagan-Ära blieb den Amerikanern erspart, obgleich die Arbeitslosigkeit stark anstieg. 
Es heißt, dass die ersten 100 Tage einer amerikanischen Regierung die einzig wirklich produktiven sind. Ihre Herzprojekte versucht sie meist in dieser Zeit zu erledigen, ehe die Midterm-Elections und später die nächsten Presedential Elecions die Prioritäten anderweitig verteilen. Diese Periode war mit dem ARRA vergangen, und er war erstaunlich leicht durchgegangen. Der Zorn im Land war so stark dass sich niemand, der bei klarem Verstand war, ernsthaft gegen die Maßnahmen stellen konnte; der Einfluss der hinter den Kulissen agierenden Lobbyisten besonders von Goldman Sachs war ohnehin noch immer relativ hoch, wenngleich sie ohne offene Rückendeckung der Republikaner agierten und sich eher darauf verlassen mussten, dass niemand wusste -  ja, wissen konnte - was genau zu tun war und ihr Rat deswegen gesucht war und der amerikanischen Kompromissliebe auch entgegenkommen würde. Vielleicht hoffte Obama, dass er durch die entschlossene Krisenpolitik und die schwächlichen Reaktionen der Republikaner genügend momentum gewonnen hatte, um sein eigenes Herzprojekt auch noch durchzudrücken: eine umfassende Gesundheitsreform, am besten mit Schaffung einer gesetzlichen Krankenversicherung ähnlich Europas.

Eine amerikanische Tragödie

Tea-Party Proteste in Washington, 12.09.2009

Dies dürfte die folgenschwerste Fehleinschätzung seiner politischen Karriere gewesen sein, obgleich sie kaum vorhersehbar war. Mit einem gewaltigen Vertrauensvorschuss des Nobelpreiskommittees, das damit gewissermaßen stellvertretend für weite Teile Europas stand, wurde ihm noch im Dezember 2009 der Friedensnobelpreis verliehen; sein Ansehen in der Welt war auf einem absoluten Höhepunkt. Was sollte da schief gehen? Das dürften sich zu dieser Zeit auch einige evangelikane Republikaner vom rechten Rand ihrer Partei gefragt haben. Sie fühlten sich bereits von McCains bewundernswertem Aufruf am Wahlabend, das Ergebnis zu akzeptieren und mit Obama zusammenzuarbeiten, verraten. Nukleare Abrüstung, Abzug aus dem Irak, der Friedensnobelpreis, das Wohlwollen der widerlich weichen Europäer - all das erregte diesen Teil des amerikanischen Parteienspektrums. Niemand hatte vorhergesehen, welch Integrationskraft und Mobilisierungspotential sie aufbringen würde, indem sie die Redneck-Rhetorik der Fans des zweiten Amendments mit einer simplen Version des Christentums kombinierten und mit der oppositionellen Brechstange radikale Steuersenkungen als politische Agenda unterfütterten und sich als Gegenpartei zum Washingtoner Establishment gerierten.
Die Tea-Party-Bewegung lebt dabei hauptsächlich von ihrem Feindbild. Dieses Feindbild sind Obama und seine "liberalen" Freunde, wobei "liberal" in den USA dieselbe Bedeutung hat wie bei uns "sozialistisch". In der Lesart der Tea-Party verrät Obama amerikanische Werte, indem der kollektive Organisationen vor die individuelle Leistung des einzelnen stellt und diese durch hohe Steuern bestrafen will, mit denen ein Heer von der Bevölkerung entfremdeten Bürokraten irgendwelche gängelnden Bestimmungen erlässt, die die Freiheit gefährden. Nirgendwo wurde dies so deutlich wie bei Obamas Versuch, nach seinem ARRA endlich die umfassende Gesundheitsreform einzuführen. 

Eine amerikanische Tragödie

Unterzeichnung des PPACA, 23.03.2010

Anfangs schien es noch so, als könnte auch dieser Versuch von Erfolg gekrönt sein. Der größte Gegner schien wie bereits zu Beginn der 1990er Jahre die Pharmalobby zu sein, die ihre Pfründe in Gefahr sah. Die Lobbyisten mit den maßgeschneiderten Gesetzentwürfen im Gepäck allerdings machten bald niemandem mehr Sorgen, hatte die Tea-Party doch die Gesundheitsreform als ihr Aufregerthema Nummer 1 für sich entdeckt. Eine Welle von irreführenden und teils schlicht erlogenen Behauptungen flutete die öffentliche Debatte und machte eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Gesetzespaket kaum mehr möglich. Die sich näherenden Midterms vor Augen, verlor Obama viele Unterstützer im Kongress, die mit dem politisch toxischen Gesetz nicht mehr viel zu tun haben wollten. Als besonders katastrophal erwies sich die gelungene Unterstellung der Tea-Party, dass die freie Arzt-Wahl (in den realen Zuständen durch die Geldbörse ohnehin kaum gegeben) durch Washington abgeschafft würde, und dass die Bürokratie über Leben und Tod entscheiden würde. Derart wirre Zuspitzungen und Verdrehungen weißen auf eine außerordentlich vergiftete Debatte und riesige ideologische Gräben hin, die in der ersten Hälfte 2009 noch kaum sichtbar gewesen waren. Als der Patient Protection and Affordable Healthcare Act PPACA im März 2010 nach einer langwierigen Schlammschlacht endlich Gesetz wurde, war er entkernt und die Regierung Obama zutiefst angeschlagen.
Waidwund mit der Auseinandersetzung um die Gesundheitsreform schleppte sich die Partei in die Midterm-Elections 2010, wo zum ersten Mal eine signifikaten Zahl von Tea-Party-Kandidaten antrat. Dieses Faktum dürfte die republikanische Kongressmehrheit verhindert haben; zwar gelang es der GOP, den Senat zu erobern, im Repräsentantenhaus aber behielten die Demokraten eine schmale Mehrheit. Der Grund dafür liegt in der Spaltung Amerikas, die durch die Tea-Party zementiert wurde. Diese Spaltung und wie sie sich in der Amtszeit Obamas vertieft hat ist eine Tragödie; es ist die Tragödie Obamas und die Geschichte seines Scheiterns. Mehr als alles andere ist es die Spaltung - für die er persönlich nichts kann - die den change aufgehalten hat. Als er die Wahl 2008 gewonnen hatte, sah die Situation noch anders aus: Obama streckte die Hand über die aisle aus und versuchte, einige Republikaner für Regierungsposten zu gewinnen und so eine Atmosphäre des bipartisanship zu schaffen. Der Aufruf McCains in der Wahlnacht genau dazu gab Hoffnung, und obwohl die Regierung doch parteiischer wurde als Obama sich das ursprünglich vorgestellt hatte, waren die Grundvoraussetzungen nicht schlecht. 

Eine amerikanische Tragödie

Obama mit dem Friedensnobelpreis 2009

Entgegen der hochfliegenden Hoffnungen der liberals, also der Linken, war und ist Obama letzten Endes ein Zentrist. Die amerikanische Politik ist in ihrem Herzen schon immer zentristisch und vom Kompromiss geprägt gewesen, und Obama machte da keine Ausnahme. Diese Ausnahme war in jüngerer Zeit George W. Bush, der 2000 nur knapp und vermutlich mit Wahlfälschungen und 2004 wegen 9/11 trotz seiner Rechtsaußen-Position das Weiße Haus erobern und verteidigen konnte. Obama wollte den Riss, der durch das Land ging - auf der einen Seite die großen Städte an Ost- und Westküste und an den Großen Seen, auf der anderen Seite das weite, flache Land des "bible belt" und die Südstaaten - kitten, wollte wieder ein Amerika schaffen, eines das ein freundlicheres Antlitz besaß und Strahlkraft in alle Welt wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Er ist gescheitert. Der Widerstand seiner Gegner, die sich von der Umarmung nicht erdrücken lassen wollten und gegen die progressive Rhetorik mit aggressiver Gegenpropaganda antworteten, war stärker und hat viele Moderate in extremere Gegnerschaft zu ihm gerissen als dies irgendwie absehbar gewesen wäre. Seine eigenen Wiederwahlchancen behindert das nicht besonders; die Radikalität der Tea-Party vergrault viele moderate Republikaner und mobilisiert die Basis der Progressiven besser, als diese es selbst vermocht hätten. Doch das Land ist, man kann es nicht oft genug betonen, gespalten, und in dieser radikalen Spaltung funktioniert die Regierung nicht mehr richtig, von der Gesellschaft selbst ganz zu schweigen, in der der Hass bis zu Mordanschlägen reichen kann. 
Es ist Auswuchs dieser Radikalisierung, dass so viele Projekte des "change" nicht oder nicht richtig durchgeführt werden konnten. Die Bewältigung der internen Streits, die Abwehr von Phillibustern, der ständige erbitterte Kampf um jede Stimme, die Paranoia, all das zehrt an den politischen Kräften und stärkt Vetospieler an anderen Stellen. Ein besonders plakatives Beispiel dafür ist Guantanamo Bay. Obama wollte das Lager schließen und die Gefangenen auf amerikanischen Boden holen. Geklappt hat das in den letzten drei Jahren nicht, denn das Militär sperrt sich beharrlich. Seine Widerstände zu überwinden hat Obama nicht die Kraft, die braucht er für Auseinandersetzungen um alltägliches Kleinklein, das zur Schicksalsfrage der Nation hochgespielt wird. Dass Amerika sich nicht am Libyen-Einsatz beteiligen wollte ist auch Ausdruck dieser aufreibenden Tätigkeiten. 

Eine amerikanische Tragödie

Situation Room bei der Tötung Osama bin Ladens

Ein kurzes Zwischenhoch gab es für die Regierung, als Osama bin Laden getötet werden konnte. Die Regierung hatte damit etwas vollbracht, das der feuchte Traum eines jeden Neocon gewesen sein musste, etwas gegen das man unmöglich sein konnte. Momentum jedoch gewann die Regierung dadurch nicht, denn die nächste Krise wartete um die nächste Ecke: die Schulden der USA, von einem dummen Gesetz das im Geiste der neoliberalen Revolution entstanden war auf die absolute Zahl von 14,3 Billionen begrenzt, steigen erwartungsgemäß über die Obergrenze. Die gigantischen Aufwendungen für die Reparatur der Finanzkrise, die Kosten des anhaltenden Krieges in Afghanistan und in Irak und die immer noch ausufernden Kosten des Gesundheitssystems machen eine Erhöhung der Obergrenze faktisch unausweichlich. Da die Einnahmeseite nicht verbessert werden kann - angesichts der geradezu lächerlichen Bush'schen Steuersenkungen eigentlich naheliegend, könnte man diese doch einfach auslaufen lassen - bleibt eigentlich nur die Ausgabenseite übrig, bei der das Militär den mit Abstand größten und kürzungsbedürftigsten Etat hält. 
Hier wird das ganze Drama der Spaltung des Landes offensichtlich: die Demokraten können, getrieben von einer von der Tea-Party angefachten Steuerdebatte, weder die Bush-Kürzungen auslaufen lassen, die nur Millionäre betreffen, noch neue Steuern oder sonstige Abgaben erhöhen. Kürzungen im Sozialbereich verbieten sich von selbst, sind doch Renten und Medicare und Medicaid ohnehin bedenklich niedrig, und Kürzungen im Militärbereich - nach der Explosion des Budgets unter Bush jr. eigentlich durchaus angebracht - werden von den Republikanern ebenfalls verhindert, die außerdem eine Erhöhung der Schuldengrenze ablehnen. Joseph Stiglitz beschreibt die Lage richtig wenn er diagnostiziert, dass die Republikaner unverantwortlich genug sind, den Karren mit voller Kraft an die Wand zu fahren zu lassen und dass dies vermutlich nur dadurch verhindert wird, dass die Demokraten (wie üblich) Gemeinnutz über Eigennutz stellen und den politischen Schaden in Kauf nehmen um die Katastrophe zu verhindern. 

Eine amerikanische Tragödie

Das Weiße Haus

Diese Situation ist eine Tragödie für das Land wie für Obama. Es ist genau die Situation, die seine oft zitierten und perverweise von der Tea-Party als geistige Urheber zitierten Vorväter befürchtet haben, als sie die Verfassung schrieben: dass nicht der Geist des Kompromisses und des Ringens um die beste Lösung die politische Bühne beherrschen würden, sondern dass Parteistreits um reine Macht- und Ideologiefragen ausgefochten würden. Obama kann dabei mit reinem Gewissen schlafen. Er war bereit, fast bis zur Selbstverleugnung seine eigenen Grundsätze wenn nicht vollständig, so doch zumindest teilweise über Bord zu werfen um eine Einigung zu erzielen und die großen Probleme anzugehen, anstatt einfach nur in den Tag hineinzuregieren. Es ist die republikanische, evangelikale Rechte, die mit ihrer kompromisslosen Radikalität genau jene Tugenden Amerikas verrät, die zu verteidigen sie vorgibt und damit die große amerikanische Tragödie unserer Tage überhaupt erst konstituiert.


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