Ringo Starr weint. Er weint um George Harrison, der seine letzten Tage – vom Krebs gezeichnet – in einer Schweizer Klinik verbrachte. Er konnte nur noch liegen, und Ringo Starr besuchte ihn. «Ach, George», seufzte Ringo Starr damals beim Abschied, «ich muss nun weiter nach Boston. Dort liegt meine Tochter im Krankenhaus. Sie hat einen Gehirntumor.» George habe einen Moment gezögert und dann gefragt: «Soll ich mitkommen, Ringo?»
George Harrison starb vor zehn Jahren, und nun widmet Regisseur Martin Scorsese dem zeitlebens als stiller oder dritter Beatle geltenden Musiker ein mehr als 200 Minuten langes Film-Porträt. Begleitend erscheint ein Bildband von Harrisons Witwe Olivia. Beide Veröffentlichungen tragen den Titel eines Albums von George Harrison aus dem Jahr 1973: Living In The Material World. Zu entdecken ist eine faszinierende Künstlerpersönlichkeit über einen Menschen, den viele unterschätzt und als Esoteriker belächelt haben.
Sanftes Lamm, zorniger Wüterich
Bei Scorsese ist George Harrison ein Mann der Extreme, mal still und schweigsam, mal witzig und lebendig. «George hatte zwei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten», erzählt Ringo Starr, «er war das sanfte Lamm und gleichzeitig der zornige Wüterich.» Harrison war zudem ein Mann mit vielen Interessen: Er begeisterte sich für die indische Kultur, den Hinduismus, für Meditation, Spiritualität – und die Formel 1. Und er schrieb so unterschiedliche Songs wie Here Comes The Sun und While My Guitar Gently Weeps.
Es war Paul McCartney, der seinen Freund George Harrison zu den Beatles holte. Erst war er nur Ersatzmann. «Wir brauchten noch einen guten Gitarristen, weil John (Lennon) und ich für Soli nicht gut genug waren. Und ich sagte: Ich kenne da einen, der ist zwar ziemlich jung, aber er ist gut», berichtet McCartney. Als die Band 1960 von Liverpool nach Hamburg ging, war Harrison erst 17. «Mit 17 in der verruchtesten Stadt der Welt – das war schon aufregend. Die ganzen Ganoven, Transvestiten und Nutten», sagt Harrison in der Dokumentation, als die Band damals auf der Reeperbahn auftrat.
Während seiner Zeit bei den Beatles behandelten ihn die anderen Bandkollegen wie einen kleinen Bruder: Seine Komposition wurden gelobt, aber für zu leicht befunden. Ringo und George hatten zu spielen, was John und Paul sich ausdachten, so lief das. Erst in der Spätphase der Beatles begann das Talent Harrisons zu leuchten. Und vor allem er war es, der musikalisch experimentierte: mit Folk, Klassik und indischer Musik.
Party oder Plattenaufnahme?
Bei Scorsese ist Harrison der Kreative und Paul McCartney derjenige, der die Musiker immer wieder ins Studio trieb. Eric Clapton, Tom Petty, die Monty-Python-Komiker, George Martin, Klaus Voormann und Jane Birkin berichten, wie es zuging in den Swinging Sixties: dass man morgens aufwachte, sich zum Frühstück traf und überlegte, ob man nun im Rolls-Royce zu den Rolling Stones ins Studio fuhr oder auf eine Party ging. McCartney beendete solche ausschweifenden Phasen, er organisierte die Plattenaufnahmen, setzte sich kurz vor den anberaumten Terminen mit John Lennon zusammen und komponierte an einem Abend vier Songs. Ein Wunder, dass bei der Arbeitsweise in rascher Folge vier Alben entstehen konnten.
Nach zehn Jahren hatten die Beatles den Medienrummel satt. Und immer öfter kam es zum Streit. Ringo Starr stieg zeitweise sogar aus, und wenn man die Szenen im Film sieht, in denen sie Hey Jude einspielen, spürt man die Gereiztheit. Sie diskutieren, ob sie das Lied ohne Gitarren aufnehmen sollen. Harrison sagt, er verlasse die Gemeinschaft, wenn sie es täten, und Lennon entgegnet: «Okay, dann engagieren wir (Eric) Clapton.» Zur Versöhnung trafen sie sich meist in Ringos Haus, aber die guten Vorsätze hielten nie allzu lange.
«Wir hatten uns über», sagt Harrison. Und McCartney erzählt: «Die Spannungen nahmen immer mehr zu. George hatte das Gefühl, dass ich die Dinge diktierte. Und es stimmte ja: Ich diktierte die Dinge, weil ich wusste, wie meine Songs klingen sollten. So wie John seine Songs diktierte. Und George genauso.» «Irgendwann erstickte uns das alles», so Harrison. «Es waren zu viele Einschränkungen. Das musste sich selbst zerstören.»
Harrison hatte da längst sein Heil in der Spiritualität Indiens gefunden und die Wahrheit auf LSD-Trips gesucht. Er konvertierte zum Hinduismus, lernte Sitar spielen und war immer auf der Suche nach neuen Grenzerfahrungen: «Als wir die berüchtigte Wunderdroge LSD ausprobierten, waren wir ganz naiv. Und das war gut. Denn es gibt ja so eine Paranoia rund um LSD, dass die Leute schon auf einem schlechten Trip sind, bevor sie die Droge nehmen. Wir dagegen nahmen sie einfach, und es war unglaublich.»
27 Jahre alt und Multimillionär
Nach der Trennung der Beatles war Harrison 27 Jahre alt und Multimillionär. Er konnte machen, was er wollte. Also gärtnerte er erst einmal im Garten seines viktorianischen Herrenhauses in Oxfordshire und brachte allmählich alle Songs heraus, die sich aufgestaut hatten. Es wurde eine Dreier-LP, sein größtes Werk: All Things Must Pass mit dem berühmten Gartenzwerg-Cover. Die Kritiker waren voll des Lobes – noch. Über die folgenden Platten wurde zumeist weniger freundlich geurteilt.
Harrison suchte sich Gleichgesinnte, mit denen er zusammenarbeitete: Er organisierte 1971 mit Ravi Shankar die Benefiz-Veranstaltung Concert For Bangladesh, gewissermaßen ein Vorläufer aller Benefizkonzerte. Er produzierte 1979 Das Leben des Brian von Monty Python – von heute auf morgen besorgte er vier Millionen Pfund, weil er nach Lektüre des Drehbuchs Lust hatte, den Film zu sehen. Und er gründete mit Bob Dylan, Jeff Lynne, Roy Orbison und Tom Petty die Travelling Wilburys, deren Song Handle With Care 1988 zum Hit wurde.
Bei Scorsese kann man dabei zusehen, wie Harrison seine Jugendlichkeit verlor. Falten gruben sich in sein Gesicht, die Haut wirkte plötzlich grau, die Drogen-Experimente wurden wilder, und es folgte die erste Krebs-Diagnose. Harrison verlor seine erste Frau Patty an Eric Clapton. Er heiratete Olivia Trinidad Arias, Sekretärin seiner Plattenfirma, bekam mit ihr einen Sohn. Ringo Starr blieb stets ein Freund, und zu den Höhepunkten des Films gehört das Fernsehinterview der beiden aus dem Jahr 1980. George sagt da: «Ich hörte 1964 auf, zu Partys zu gehen. Und Ringo erwidert: «Ich erst 1980.» Und dann lachen sie.
1999 wurde Harrison von einem Geistesgestörten in seinem Haus überfallen. Der Mann ging mit einem Speer auf ihn los, doch der verletzte Harrison konnte ihn mit der Hilfe seiner Frau niederringen. Danach sagte er zu Olivia: «Ich will nun allmählich loslassen.»
Zwei Jahre später starb George Harrison an Lungenkrebs. Er wurde nur 58 Jahre alt.
V E R L O S U N G: drei Blu-rays
Zum DVD- und Blu-ray-Start von George Harrison – Living in the Material World verlost news.de drei Blu-rays. Wer gewinnen möchte, schickt bitte eine E-Mail mit dem Stichwort «George Harrison» bis Freitag, 16. Dezember 2011, 12 Uhr, an [email protected]. Bitte die Postadresse nicht vergessen. Die Gewinne werden unter den Einsendern verlost. Die Gewinner werden umgehend per E-Mail benachrichtigt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Titel: George Harrison – Living In The Material World
Regie: Martin Scorsese
Filmlänge: 209 Minuten
FSK: ab 12 Jahre
Extras: Musikextras Dispute And Violence und Here Comes The Sun, Interviews mit Paul McCartney, Damon Hill, Jeff Lynne
Verleih: Studiocanal
Preis: rund 14 Euro
DVD-/Blu-ray-Start: 8. Dezember 2011
Der gleichnamige Bildband von Olivia Harrison ist im Knesebeck-Verlag erschienen und kostet 39,95 Euro.
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George Harrison – Der unterschätzte Beatle