Der Unfug vom Profilverlust

Von Stefan Sasse
Neben den Kanzlerkandidaten der SPD gibt es eigentlich nur einen Evergreen in den Medien, der einfach nicht totzukriegen ist: das ständige Gerede vom konservativen Profil, das die CDU angeblich verloren habe und das sie dringend brauche, um auch in Zukunft Wahlen zu gewinnen. Es ist beachtlich, wie resistent Merkel und die anderen CDU-Granden gegen (meistens) gegen diesen Unfug sind. Wer einen Beleg dafür braucht, dass Angela Merkel politisch ziemlich clever ist braucht nur darauf zu sehen, dass sie diese Aufrufe beharrlich ignoriert. Im Allgemeinen hört sich dieses Narrativ so an: In einem aktuellen Trend so genannten "Pragmatismus" habe die CDU ihre Positionen bis zur Unkenntlichkeit aufgegeben - Stichwörter Mindestlohn, Atomausstieg, Elterngeld - und dadurch ihr "konservatives Profil" verloren. Ominös wird dann darauf verwiesen, wie wichtig es doch wäre, dieses Profil zu haben, sonst käme bald das Desaster. Daran sind drei Dinge interessant. Erstens, dass die gleichen Medien ständig von der SPD fordern, ihr soziales Profil aufzugeben beziehungsweise sie dafür beglückwünschen, obwohl es offensichtlich nicht zu ihrem Vorteil war. Zweitens, dass die CDU entgegen aller Unkenrufe eher dort verloren hat, wo sie das "konservative Profil" besonders betonte - Baden-Württemberg etwa oder Bayern. Und drittens, dass dieses "konservative Profil" überhaupt nicht konservativ ist. 
Der erste dieser Punkte zeigt deutlich, dass das Profil-Gerede hauptsächlich eine andere Art ist, die eigenen Präferenzen auszudrücken, dem aber ein objektives Gewand zu geben. Es ist ja nichts Falsches daran, solche Positionen zu vertreten - das ist in einem demokratischen Wettstreit der Meinungen nicht nur erlaubt, sondern auch erwünscht. Dass aber alle ständig darauf hereinfallen ist schon etwas verwunderlich. Merkel selbst dürfte sich darüber freuen, denn jedes Mal, wenn das Fehlen des "konservativen Profils" bemängelt wird erhält sie eine Reihe von "konservativen" Statements der Rechtsaußen in der Partei, die sie selbst einfach weglächelt - dadurch bedient die Partei gleichzeitig diese Klientel, während jeder, der sich in diesen Positionen nicht wiederfindet, auf Merkels "Pragmatismus" bauen kann. Das ist, glaube ich, was die SPD mit der Troika erreichen wollte und nicht konnte. Es wird interessant werden zu sehen ob Steinbrück einen Versuch macht, dem linken Flügel rhetorisch Raum zu geben und sich quasi als "Alternative der Vernunft" dagegen zu positonieren, ohne das so explizit zu sagen. Ich würde eher dagegen wetten, schon allein wegen der Größe seines Egos, aber man weiß ja nie. 
Dass die CDU keine Wahlen mehr gewinnt, indem sie Franz-Josef Strauß aus der Mottenkiste holt, ist ebenfalls ein offenes Geheimnis. Zwar kokettiert die Partei gerne mit dem rechten Rand, aber mit der Brachialität des Ur-Bayern ("Rechts von uns ist nur noch die Wand") geht das längst nicht mehr von statten. Die aktuelle Debatte um das Erziehungsgeld zeigt, wie schnell solche Versuche nach hinten losgehen können. Das liegt vor allem daran, dass die Idee von "konservativ", die offensichtlich in den Medien und von den Parteistrategen gehegt wird, nicht mehr viel mit dem zu tun hat, was die Mehrheit der Wähler als konservativ sieht. Der geradezu lächerlich reaktionäre Versuch, das alte Familienmodell mit dem Erziehungsgeld zu bewahren, die ständigen Ausfälle gegen Ausländer und besonders Muslime, die absurde Debatte um Strafen für Blasphemie oder die ständigen Angriffe auf Homosexuelle, die Technikfeindlichkeit und die ständigen, reflexhaften Rufe nach Strafverschärfung zur Lösung von Kriminalitätsproblemen - sie alle sind anti-demographisch. Vor zehn oder zwanzig Jahren mag man damit noch allenthalben zustimmendes Kopfnicken erreicht haben, aber inzwischen haben sich die Lebensentwürfe - absurderweise ja gerade wegen der Politik der Union - immer weiter diversifiziert, ist kein Platz mehr für die enge Definition von "normal", die oftmals unter "konservatives Profil" zusammengefasst wird. 
Das bedeutet nicht, dass es keine Zustimmung für diese Positionen geben würde, gewiss nicht. Sie sind wahrscheinlich sogar problemlos mehrheitsfähig. Nur, sie sind nicht mehr in einem Maße mehrheitsfähig, wie sie es einmal waren, und sie sind vor allem nicht mehr so offen mehrheitsfähig. Insgeheim mögen viele so denken, aber zumindest in der Öffentlichkeit kann man nicht mehr gar so leicht gegen Homo-Ehe oder Frauenrechte agitieren, wie dies einmal der Fall war - die Debatte um die Frauenquoten zeigt das deutlich. 
Entscheidend aber wirkt sich aus, dass eigentlich originär konservative Positionen in der Union überhaupt keine Vertretung mehr haben, obwohl sie dort ihren Ursprung hatten, allen voran die Rente. Es ist die Union, die stets zuvordererst dabei ist, die Rente zu kürzen oder von ihrer Privatisierung zu reden, die ständig die Botschaft verbreitet, dass die Rente eben nicht sicher ist und dass Altersarmut droht. Frank Lübberding hat das bei Wiesaussieht auf den Punkt gebracht: 94% der Deutschen sind gegen die geplante Absenkung des Rentenniveaus auf 43% (ein ohnehin geradezu wahnhafter Plan), aber die CDU besteht steif und fest darauf, diese 94% als dumme Nichtsblicker zu verachten und stattdessen das Ganze durchzuziehen. Die Propagierung eines "everyone for himself", eines radikalen Individualismus und eines Fressen und Gefressen werden ist ja gerade nicht konservativ. Der größte Vorteil der CDU ist und bleibt die Schwäche der Sozialdemokratie, denn sie wäre die einzige Kraft, die ernsthaft einen Gegenentwurf anbieten könnte. Viele dieser Maßnahmen hat sie aber selbst verantwortet und propagiert sie heute selbst - und die meisten Deutschen würden sich eher die Hand abhacken als die LINKE zu wählen, die außerdem mit aller Kraft daran arbeitet, dass ihr niemand die Regierungsfähigkeit abnimmt. Solange das "konservative Profil" aber auf irgendwelchen reaktionären Quark reduziert wird, tut die CDU gut daran, es zu "verlieren". Das macht Merkel durchaus richtig.

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