Siegfried Lenz gehört zu den bekanntesten und meistgelesenen Autoren in Deutschland. Sein wohl wichtigstes Werk Deutschstunde, welches in viele Sprachen übersetzt und verfilmt wurde, ist den meisten sicherlich ein Begriff. Lenz’ Romane wurden sowohl in den Literaturkanon aufgenommen, als auch in Lehrpläne für den Deutschunterricht. An Brot und Spiele kann ich mich noch gut erinnern. Es ging um den betagten Läufer Bert Buchner, der ein letztes Mal zur Europameisterschaft antritt, gegen eine Konkurrenz, gegen die er kaum Chancen hat. Erzählt wird das Geschehen von einem Zeitungsreporter, der Buchners ehemaliger Freund ist. Der Wettkampf wird von seinen Erinnerungen an ihre Freundschaft und die Karriere Buchners in Rückblenden begleitet.
Lenz’ Stil und Sprache würde ich heute als äußerst bemerkenswert beschreiben. Doch damals war die Lektüre eine unglaubliche Qual, denn mit 14 Jahren hatte ich einfach andere, viel wichtigere Dinge im Kopf. Elf Jahre später ist es nun an der Zeit, sich erneut mit Lenz zu beschäftigen. Da kommt sein neues Werk Der Überläufer, welches rund 65 Jahre nach Fertigung posthum veröffentlicht wurde, gerade richtig.
Der Überläufer wurde von Lenz 1951 geschrieben; sein zweiter Roman nach Es waren Habichte in der Luft, der einen beachtlichen Erfolgt feierte. Der Verlag Hoffmann und Campe zog damals seine Zusage zurück, aus politischen Gründen. Denn es geht um den jungen Soldat Walter Proska, ein Überläufer, der die Seiten an der Ostfront wechselt und sich der Roten Armee anschließt.
Ein zu brisantes Thema für diese Zeit, vor allem weil Walter nicht bloß ein Soldat ist, der seine eigene Haut retten möchte oder ein Verräter; vielmehr handelt es sich um einen jungen Kerl, der verlässlich ist und niemanden Böses will. Er leidet sehr darunter, töten zu müssen, um selbst zu überleben. Seine Kameraden respektieren ihn und er sie. Zum Teil bahnen sich Freundschaften zwischen den Männern seiner Einheit an, die sich gemeinsam irgendwo zwischen Polen und der Ukraine befinden. Es sieht nicht gut für sie aus, überall lauert der Gegner, auf Bäumen und hinter Büschen versteckt, nahezu unsichtbar. Walter muss mit ansehen, wie ein Kamerad nach dem anderen den Partisanen zum Opfer fällt.
Bald befindet sich Walter selbst in einem Dilemma. Mit seinem Freund Wolfgang, „Milchbrötchen“, unterhält er sich über den Nationalsozialismus, dessen Wahn und Zukunft und lässt sich letztendlich überreden, zu den Partisanen überzulaufen.
„Mit Denkbemühungen allein ist nichts getan. Wenn wir zu einem festlichen Leben gelangen wollen, muß schon ein aktives Leben in Kauf genommen werden. Wer kontrolliert denn die Werte der Welt? Du, du allein.“
Ganz unvorhersehbar waren Walters Sympathien für die Partisanen nicht. Bereits zu Beginn des Romans bandelt er mit der schönen Wanda an und verliebt sich in sie. Überhaupt werden die Partisanen als normale Menschen dargestellt, Menschen mit Wünschen und Hoffnungen, was zu jener Zeit dem Feindbild auf ungeheuerliche Weise widersprach.
Lenz zeigt mit Der Überläufer durchaus Mut zu Tabus, beindruckt und zeigt dennoch Schwächen: Handlungen werden eingebaut, die den Roman in die Länge ziehen und in keiner Relation zueinanderstehen, Dialoge schweifen zu weit aus und wirken hochtrabend, Metaphern sind teilweise zu überambitioniert und tragen sehr dick auf, das Schlussbild ist ein wenig kitschig. Es liegt wohl daran, dass Lenz den Text überarbeiten musste, um dann am Ende doch eine Absage zu erhalten. Dennoch ist Der Überläufer ein großer Roman von einem großen Schriftsteller; eine facettenreiche Geschichte, die existenzielle Fragen nach Schuld und Verantwortung aufwirft.
Siegfried Lenz: Der Überläufer. Hoffmann und Campe. Hamburg 2016. 368 Seiten. 25,00 Euro.