Der Tod gebiert Schmerzensmütter und Schmerzensväter

Der Tod gebiert Schmerzensmütter und Schmerzensväter

Mater Dolorosa - Foto: Nick Mangafas

Es gibt Theatervorstellungen, die erfordern Mut. Mut von den Produzenten und Veranstaltern aber auch Mut vom Publikum.
Mater dolorosa, derzeit noch im Theater Nestroyhof-Hamakom zu sehen, ist eine solche Vorstellung. Sie verspricht, wie der Titel schon sagt, keine leichte Kost. Daraus resultierend ist abzusehen, dass das Publikum nicht unbedingt Schlange an der Kasse stehen wird, denn wer begibt sich jetzt in der Vorweihnachtszeit gerne auf die Spuren von Schmerz und Leid? Und dennoch war die Premiere ausverkauft und dennoch ist das, was gezeigt wird trotz der Schwere der Thematik sehenswert, in keinem Augenblick tränendrüsenherausfordernd und dennoch emotional packend.

Das „progetto semiserio“ unter der Gesamtleitung von Georg Steker macht, wie es auf seiner Internetseite verkündet, neues Musiktheater. Aber mit diesem Terminus ist das Geschehen dieser Produktion bei Weitem noch nicht in seiner Gänze umrissen. Denn neben zeitgenössischer Ensemblemusik, neben der wunderbaren Stimme von Christina Kummer, die im Opernfach ausgebildet wurde, neben theatralischen Szenen, wird auch dem zeitgenössischen Tanz breiter Raum gewidmet. In kurzen, hintereinander aufgereihten Sequenzen, die jede für sich Bestand hat, breitet sich ein Kaleidoskop von jenem introspektivem Geschehen aus, über das man nicht spricht, weil man meint, dass es einen selbst nie betreffen würde. Weil man glaubt, dass der Tod eines Kindes eine Randerscheinung darstellt, die nur wenige Menschen heimsucht. Dass man dabei Millionen von Menschen aus den unterentwickelten Ländern ausblendet und Millionen von Menschen,die ihre „Kinder“ – egal in welchem Alter – im Krieg verlieren, nicht bedenkt, wird einem im Laufe dieses Theaterabends klar.
Hier schafft die Produktion das Kunststück, vom Einzelschicksal den großen Bogen hin zu den internationalen Kriegsschauplätzen zu spannen und letztendlich das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass auch in unserem Kulturkreis viele Menschen durch die Hölle dieses persönlichen Abschieds gehen mussten. Als Verbindungsglied agiert Melitta Jurisic, die in großartiger Weise jenen trauernden Frauen ein Gesicht gibt, die ihre Söhne im Jugoslawienkrieg verloren haben. Mit ihrem bosnischen Lamento, einer Überlieferung aus dem 14. Jahrhundert, macht sie klar, dass das Abschiednehmen über alle Zeiten hinweg emotional gleich schwer empfunden wurde und wird und dass es keinen Unterschied macht, welches Unglück dafür verantwortlich zeichnet. Schmerz bleibt immer individuell und ist doch kollektiv.

Mater dolorosa, die „Schmerzensmutter“, die in der christlichen Ikonographie seit Jahrhunderten tradiert wird, wird in der Regie von Radovan Grahovac klugerweise nicht nur auf das Leid von Frauen reduziert. Bert Gstettner schlüpft in mehrere Rollen und visualisiert tanzend sowohl den sterbenden und Abschied nehmenden Säugling als auch den Soldaten, der von Kugeln durchsiebt wird. Aber er verkörpert auch jene Männer, die vom Tod ihrer Kinder betroffen sind. In einer eindrucksvollen Passage verschwindet er vom Esstisch, an dem er seiner Frau schweigend, in Trauer wortlos geworden gegenübersaß, und trägt die schwere Tischplatte symbolisch als Lebensbürde mit sich davon. Doch Trauer und Schmerz sind Emotionen, die einem Wandel unterliegen. Sie überfluten und erdrücken einen, aber sie lösen sich auch wieder und hinterlassen ein verändertes Sein. Und so geht auch er durch diesen unbeschreiblichen Prozess, der nur dann eine lebensbejahende Wandlung erfahren kann, wenn er zugelassen wird.

Mit Rainer Maria Rilkes Gedicht „Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht“ wird eine zusätzliche Ebene der Schmerzbewältigung eingezogen, die versucht, dem Abschied eine Erklärung und einen Sinn zu geben, den Tod als Erlösung und Befreiung zu interpretieren, wenn man ihn akzeptieren kann. Die Musik von Jörg Ulrich Krah unterstützt völlig adäquat die Dramaturgie. Sie brüllt dort, wo es nicht anders möglich ist, wird leise, wo die Introspektion der ProtagonistInnen es verlangt und schafft mit verhaltener Farbigkeit süd-ost-europäische Landschaften, ohne je ins Folkloristische abzugleiten. Krahs Partitur bleibt gerade in der Singstimmenbehandlung sehr abstrakt, was aber Kummers Interpretation eine Art Leichtigkeit und beinahe kristallene Transparenz beschert. Hier werden keine Gedankenautobahnen gelegt, sondern ganz im Gegenteil Freiräume geschaffen, die jeder individuell füllen kann.

Die ständige Präsenz von Kindern auf der Bühne stiftet einen Ausgleich zu jener Absenz, über die an diesem Abend verhandelt wird. Sie zeigt gleichzeitig, dass das Leben weiter geht und fungiert nicht nur als visualisierte Erinnerung, sondern viel mehr noch als Hoffnung, die in eine Zukunft weist, in der der Schmerz überwunden werden kann.

Ein bemerkenswerter Abend, an dem das Publikum die Möglichkeit hat mit einer großen Portion Erkenntniszuwachs nach Hause zu gehen.

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