Der Tag, an dem ich beschloss, nicht hinzugucken.

Sind wir Eltern Diebe?

Ich habe, neulich im Wartezimmer, ein neues Wort gelernt, es lautet “Gegenwartsschrumpfung”, und es bedeutet, wenn ich das richtig in Erinnerung behalten habe*, dass wir, also die Eltern, unseren Kindern die Gegenwart stehlen.

Und wie geht das?

Punkt 1: Wir lassen unsere Kinder (nur/vor allem/am liebsten) das tun, was sie in Zukunft brauchen könnten.

Sie machen Sport, um frühzeitig dem Überfluss-Bauch zu wehren, sie lernen Englisch im Kindergarten, damit sie sich später im globalen Wettkampf verständigen können. Wir lassen sie gerne in Gruppen spielen, damit sie soziale Kompetenzen erlernen, aber es sollten natürlich schon Kinder sein, deren Verhaltensweisen (und am besten deren ganze Familie) auch gesellschaftlich anerkannt sind.

Punkt 2: Wir lassen sie nicht aus den Augen.

Wir sind die Robin Hoods der Spielplätze, und die Schutzengel unter dem Klettergerüst. Wir sind die heimlichen Nachhilfelehrer und emsige Leser von Jespers & Juuls. Wir sind mehr als besorgt und wollen alles richtig machen.

Punkt 3: Wir versetzen uns in unsere Kinder und übertragen unsere eigenen (Zukunfts)Ängste und Wünsche auf sie.

Meine Mutter schenkte mir jedes Jahr Dinge, von denen sie glaubte, ich würde sie mögen. Ich hatte eine Puppe, die ich mit Uhu eincremte, einen Puppenwagen, den ich einmal durch die Siedlung schob. Ich sollte weiße, wallende Vorhänge an meinem Fenster befestigen. Als Erwachsene erfuhr ich die Lösung: Sie schenkte mir das, was sie sich selbst als Mädchen erträumt hatte. Aber ich war gar kein typisches Mädchen.

Kurzum: Wir stehlen unseren Kindern die Gegenwart, indem wir in die Zukunft denken. Oder ins Vergangene. Wir tun die Dinge nicht um ihrer Selbst willen und berauben den Kindern damit ihrer Freiheit. Oder?

Nun ist das alles nichts neues, und ich will jetzt auch gar nicht schreiben, dass ich diesem zeitgeistigem Druck nicht irgendwie auch fröne (auch wenn ich die Tigerenten-Bordüre zu meinem größten Leidwesen immer noch nicht aufgehängt habe), und außerdem gewinne ich ihm auch wirklich gute Seiten ab.

Aber gestern, da saßen wir im Sonnenschein, vielmehr ich, auf der Treppe vor dem Spielplatz und malte, und da beschloss ich, nicht hinzusehen. Das war einfach. Wir waren die einzigen Besucher dieses Platzes, abgelegen von der Laufroute. Und niemand beobachtete MICH.

Das war eine Erkenntnis. Wenn jetzt tatsächlich etwas passieren sollte, dann würde mich niemand schief angucken. Ich müsste mich nicht rechtfertigen. Außer vor der Ärztin.

Aber es passierte nichts.

Maxe fiel über eine Baumwurzel und heulte (der Blutfleck war so groß wie ein Stecknadelkopf), und ich sprang nicht sofort auf. Sohni klaute dem großen Sohn sein Bündel Stöcke, aber ich unterdrückte den Robin-Hood-Komplex in mir.

“Sag ihm, dass du das voll daneben findest”, sagte ich zu dem heulenden Großen, der die Ungerechtigkeit der Welt und seinen diebischen Bruder bitter beklagte.

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Ich sagte nicht, sie sollen nicht mit den Kieselsteinen werfen, weil sie lachten und niemand verletzt wurde. Ich schaute ihnen nicht nach, als sie hinter den ersten Hecken verschwanden, weil sie verstecken spielten.

Ich vertraute ihnen und ihren Fähigkeiten, zurückzufinden.

Ein wirklich guter Spielplatz. Ich glaube, da gehe ich häufiger hin.

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*vermutlich in der November Ausgabe der Brigitte 2013


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