Der Tag an dem die Arbeit still stand

 

Inzwischen ist etwas mehr Zeit vergangen, als ich eigentlich verstreichen wollte… Yom Kippur ist seit über einer Woche vorbei und seit über einer Woche habe ich mich viel zu erfolgreich davor gedrückt euch, liebe Leser das auch mitzuteilen.

Wir beginnen gleich mit zwei kleinen Errata:

Meinen letzten Blog habe ich am Samstag, dem 18. September veröffentlicht, geplant war die Veröffentlichung jedoch bereits am Freitag, dem 17., da er sich auch auf diesen Tag bezieht – ich hoffe, dass das nicht zu sehr verwirrend ist.

Das zweite Erratum ist etwas interessanter und die Richtigstellung habe ich meiner lieben Freundin Malka zu verdanken.
Schon beim Schreiben ist es mir recht merkwürdig vorgekommen, dass manche säkulare Juden sich so vor Yom Kippur fürchten, dass sie die Geschäfte plündern – und das obwohl ich selbst am Markt vorbeigeschaut habe – dort aber hauptsächlich orthodoxe Juden sehen konnte.
Sicher kaufen auch nichtreligiöse Juden am Vortag von Yom Kippur ein, aber die Hauptzielgruppe sind doch gläubige Jüdinnen, die alles für das Fastenbrechen einkaufen – und daher sind die Läden eben zum Brechen voll.

Ich auf einer der meistbefahrenen Straßen in der Innenstadt - an Yom Kippur ohne Autos

Ich auf einer der meistbefahrenen Straßen in der Innenstadt - an Yom Kippur ohne Autos

Das Fastenbrechen oder „Anbeißen“, wie es genannt wird ist an Yom Kippur besonders spektakulär, die Tische sind so voll, dass sie sich biegen und dass sich die Hausfrau übernimmt ist (leider) keine Seltenheit.
Warum ist Yom Kippur eigentlich so wichtig, dass nicht einmal liberale Juden mit dem Auto fahren?

10 Tage vor Yom Kippur ist ja der jüdische Jahresbeginn: Rosch Ha‘Schana – an diesem Tag, so sagt man, schreibt Gott die Namen der Menschen in drei verschiedene Bücher:

  • Die Gerechten und besonders guten Menschen werden im Buch des Lebens niedergeschrieben. Diese dürfen sich über ein weiteres Jahr auf diesem Planeten freuen.
  • Böse Menschen finden ihren Namen im Buch des Todes wieder, was einer Art Todesurteil gleich kommt. Im kommenden Jahr werden sie sterben.

Nun ist es allerdings so, das sich nur sehr wenige Menschen als „gut“ oder „böse“ einordnen lassen (und dies in vielerlei Hinsicht). Was passiert mit denen, die „weder noch“ sind oder nur zu einer Seite „tendieren“?

Sie kommen in das Buch der Mittelmäßigen.

In den 10 Tagen nach Rosch Ha‘Schana bietet sich ihnen die Gelegenheit, Gott davon zu überzeugen, dass sie es wert sind, in das Buch des Lebens eingetragen zu werden. In diesen Tagen, die etwas mehr als eine Woche betragen betet man fleißig – und die Frage, ob jemand, der wie Gott allwissend ist, auf den „Nikolaus-Effekt“ hereinfällt ist nicht ganz illegitim (Gute Dinge, die vor einer sehr kurzen Zeitspanne geschehen sind werden besonders hoch bewertet, alles was weiter zurückliegt ist vom Schleier der Vergangenheit überdeckt… Eben wie am Nikolaustag).

Die Frage ist in der Tat interessant: Gott kennt meine Taten und weiß, dass ich beten werde, aber da er weiß, dass ich beten werde muss ich dann tatsächlich noch beten? Oder kann ich überhaupt durch meine Gebete die Zukunft, die Gott eigentlich wissen sollte beeinflussen?

Solche Fragen sind berechtigt und auch nicht selten gestellt – vor einigen Monaten habe ich einmal etwas darüber geschrieben – von vielen Rabbis wird angezweifelt, ob Gottes „denken“ überhaupt mit unserem vergleichbar ist – geschweige denn, ob wir es verstehen können.

Von daher: Beten schadet nie ;)

An Yom Kippur werden die Namen im Buch der Mittelmäßigen entweder ins Buch des Lebens oder ins Buch des Todes geschrieben und man gibt noch einmal alles, um sein Leben zu verlängern: 25 Stunden (Dem Schabbat wird eine Stunde hinzugefügt) ohne Getränke und ohne Nahrung – und dieses Jahr war ich sogar dabei!

(Am Rande: Nicht jeder, der Jude ist macht auch mit, aber wie viele Christen nur zu Weihnachten und zu Ostern in der Kirche sind, sind viele Juden eben nur an Yom Kippur, zu Pessah und dem Wochenfest in der Synagoge)

Man wünscht sich den vielleicht etwas lang geratenen Gruß „Leschana towa tikatewu wetechatemu!“ – den man in etwa nach „Mögest du in das Buch der Lebenden eingetragen werden“ übersetzen könnte.

Ein Tag ohne Essen wäre ja für mich nicht so ein Problem, aber auch auf Wasser zu verzichten macht es nicht wirklich leichter. Daher habe ich einen chassidisch-orthodoxen Juden gefragt, wo ich Zauberkräuter bekomme würde.

Etwas irritiert hat er mich dann mit der Wahrheit konfrontiert. Es gibt keine Zauberkräuter. Gar keine.

Glücklicherweise konnte er mir zwei andere Hilfestellungen geben: Am Tag davor trinkt man einfach mehr… und die Weisen haben einmal eine Empfehlung abgegeben: Das Essen von Salzheringen hielten sie für keine gute Idee.

Inwiefern mir das tatsächlich geholfen hat weiß ich nicht, da ich das Eine bereits in Erwägung gezogen und das Andere gar nicht vor hatte…

Dann war er plötzlich da: Erev Yom Kippur… Der Freitag (wörtlich „Vorabend“) vor Yom Kippur.

Zuerst musste ich einmal etwas Gutes essen. Ich habe mich für Foul – einem arabischen Bohneneintopf und Humus entschieden, da beide schnell und effektiv sättigen und meiner Meinung auch recht nahhaft sind – dazu gab es Ei.

Schmeckte besser als es aussah :) - Foul mit Humus und Ei

Schmeckte besser als es aussah :) - Foul mit Humus und Ei

Nebenbei war es mein Tagesziel etwa sechs Liter Wasser aufzunehmen, um für den kommenden Tag eine gewisse Reserve zu besitzen.

Tatsächlich. Die Hülsenfrüchte sind effektiv. Zu effektiv. Mein Magen ist nicht groß genug für die beiden… Wasser und den Eintopf.

Nach einiger Zeit haben sie sich dann auch duelliert und das Eine wollte das Andere wieder rauswerfen…

Inzwischen weiß ich, dass es intelligenter gewesen wäre, wenn ich mich für Datteln entschieden hätte…

Der Gottesdienst am Freitagabend hat dann um 17:15 begonnen und bis zuletzt war eine 2l-Wasserflasche mein stetiger Begleiter, den ich zu leeren versucht habe.

17:12 Ich trinke noch den vorletzten, großen Schluck
17:13 Die Toilette wird aufgesucht
17:14 Ich leere die Flasche
17:15 Der Gottesdienst beginnt. Ich fühle, dass sich mein Magen in einem überkritischen Zustand befindet, bin zu wohlgenährt und mit Wasser aufgepumpt
17:17 Meine Blase meldet sich
17:20 Ich habe Durst

Im Gegensatz zu mir hatte mein Durst kein Bedürfnis danach, dass er verschwindet und ich war am Überlegen, mit welcher Strategie ich den kommenden Tag besonders gut überleben könnte.

Bekanntlich kann man im Schlafe nicht sündigen und diesen (sehr billigen) Weg hatte ich vor zu gehen. Bis 9:00 in der Früh, als mein Aufwachen von einem recht unangenehmen Gefühl der Mischung aus Auffüllen und Entleeren des Wasservorrates gezeichnet war…

In der Nacht konnte ich bei der Klagemauer viele im Gebet versunkene tanzende und singende chassidische Juden sehen. Was wohl aus denen geworden ist?

Die Klagemauer in der Nacht auf Yom Kippur

Die Klagemauer in der Nacht auf Yom Kippur

Ich fasste den Entschluss zur Klagemauer (Kotel) zu ehen, zu schauen, was aus den tanzenden Chassidim wurde und vielleicht würden mich ein paar Psalmen von meinem Durst ablenken.

Der Weg zur Klagemauer sieht folgendermaßen aus, wenn man vom Damaskustor geht – im Hintergrund das Lied „Nächstes Jahr in Yeruschalaim“:
Der Tag an dem die Arbeit still stand

Die Chassidim waren inzwischen verschwunden, die Sonne nicht und die tat ihr Bestes, damit mein Denken auch weiterhin darauf fokussiert war, wo ich jetzt etwas Trinkbares herbekommen würde.

Zum Herausfinden sämtlicher offenen arabischen Läden, die Wasser anbieten hätte meine Konzentrationsfähigkeit ausreicht. Zum Lesen der Psalme… Nicht.

Kotel (Klagemauer) bei Tag

Kotel (Klagemauer) bei Tag

Durchhalten Mario. Von dem bisserl Durst lässt du dich nicht unterkriegen. Auch nicht bei 30°C!

Die Klagemauer ist auch eine Synagoge, daher sind die Bereiche für Männer und Frauen getrennt

Die Klagemauer ist auch eine Synagoge, daher sind die Bereiche für Männer und Frauen getrennt

Nächster Plan: Ich marschiere einfach um die Altstadt. Da verbrauche ich nicht zu viel Energie, muss mich auf nichts konzentrieren und seh was Schönes.

Die Idee war an und für sich gut und ich wäre wahrscheinlich bis zum Abendgottesdienst um die Altstadt gewandert. Wenn die Tagestemperatur unter den vorher erwähnten 30°C geblieben wäre…

Nett ist diese Runde in jedem Fall. Wenn nicht gerade wie am darauffolgenden Montag Araber Steine um sich werfen ist es sogar relativ ruhig.

Einen besonderen Augenmerk verdient das Goldene Tor auf der Rückseite der Altstadt. Majestätisch erhebt es sich durch die Stadtmauern und triumphiert vor dem Ölberg. Durch dieses Tor wird einst der Messias kommen, auf den die Juden warten.

Deshalb hat man es unter muslimischer Herrschaft zugemauert. Sicher ist sicher.

Das goldene Tor (Zugemauert)

Das goldene Tor (Zugemauert)

Und im Falle des Falles gewappnet zu sein legte man gleich dazu einen Friedhof vor dem Tor an – jemand wie der Messias meidet solch unheiligen Boden doch. Wäre ja noch schöner, wenn der Messias kommen würde, ohne vorher den Sultan um Erlaubnis zu fragen.

Nachdem auch nach Sprechen von Psalmen die Mauern nicht eingebrochen sind, denke ich, dass ich nicht der Messias bin

Nachdem auch nach Sprechen von Psalmen die Mauern nicht eingebrochen sind, denke ich, dass ich nicht der Messias bin

Auch die Schönste Wanderung wird ohne Wasser ermüdent und ich musste mir wieder etwas einfallen lassen.

Idee: Ich gehe einfach ins Hostel, in dem ich die Nacht verbracht hatte und lese ein Buch in klimatisierter Umgebung.

Diverse Araber, die direkt vor dem Gebäude ihre Fertigkeiten in der Zubereitung herrlicher Grillspieße zur Schau gestellt haben und einige Rucksacktouristen, die die Küche in den Aufenthaltsraum verlegt hatten waren dann doch etwas störend, aber es half minimal alles einfach als Prüfung zu sehen…

Wer hat das Grillen erfunden...?

Wer hat das Grillen erfunden...?

Der Gottesdienst in der Reformsynagoge sollte gegen 4 beginnen. Vielleicht war es wirklich das Beste, wenn ich dort hingehen würde…

Reform-

Reform-"Synagoge"

Wer als Nichtjude eine Synagoge aufsuchen will, der sollte sich für eine Orthodoxe oder im Notfall eine Konservative entscheiden. In diesen läuft der Gottesdienst besonders interessant ab. Auch wenn man kein Wort versteht – und man sollte auch gar nicht versuchen den Gebeten in den oftmals unsortierten Gebetsbüchern zu folgen. Der Text ist transscripiert und auf Hebräisch, wer ungeübt ist wird sich – so wie ich – recht bald in dem Gewirr an Sonderregelungen (Manche Gebete sind zu Pessah, in der Woche zwischen Rosch Ha‘Schana und Yom Kippur und auch an anderen Feiertagen unterschiedlich) verfangen.

Sollte man dennoch vorhaben sich „durchzubeten“ ist es immer gestattet (Außer während der Lesung aus der Tora, also wenn die große Rolle am Tisch liegt) seine Nachbarn um Hilfe zu bitten. Meistens ergibt sich daraus sogar eine sehr interessante Konversation.

Als sich die Protestanten von der katholischen Kirche abgespalten haben wurden die Messen intellektueller und näher bei der Gemeinde.

Als sich das liberale Judentum entwickelt hat, wurden die Gottesdienste katholischer. Ein berühmter liberaler Rabbiner war vom braven und stillen Herumgesitze der Katholiken in der Kirche derart angetan, dass er gleich selbst konvertierte…

Ein Gebet, das man am Schabbat der Schabbate – an Yom Kippur – spricht verdient eine besondere Erwähnung: Das „Kol Nidre“.

Im Laufe unseres Lebens verspricht man Gott alles mögliche, wenn er nur… dies und jenes für uns täte…
Von einer Not geplagt oder vom Übermut gepeinigt schießt man mit dem „Erhöhen des Angebots“ im Falle einer Hilfe hin und wieder übers Ziel hinaus und kann sein Versprechen nicht einhalten. Was dann?

An Yom Kippur bittet man mit dem Sprechen des Kol Nidre Gott darum einem diese unerfüllbaren „Vertragsleistungen“ zu verzeihen und für ungültig zu erklären.

Merkbar legte sich die Finsternis über das Land und der höchste Feiertag der Juden neigte sich dem Ende zu. Der Schabbat war vorbei und ich durfte noch schnell filmen (Aufgepasst habe ich trotzdem, dass mich niemand erwischt ;) ) – so sieht eine Reformsynagoge (genaugenommen Har-El) von innen aus. Das Lied ist übrigens die Ha‘Tikva (Die Hoffnung) – die Hymmne des Staates Israel.

Die Synagoge war so lieb und hat für alle, die das Fasten eingehalten haben einen kleinen Tisch mit Lebensmitteln und Getränken zur Verfügung gestellt. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl zu wissen, dass man seine Gelüste überwunden hat. Der Durst verschwand und die Normalität kehrte zurück…

Epilog:

Hin und wieder faste ich aus allen möglichen Gründen, ein Tag ohne Essen ist nicht so schlimm, aber ohne auch nur einen Tropfen Wasser? Wie schaffen das die Juden?

Der „Trick“ dabei ist hier die Übung. Im Judentum gibt es nicht bloß diesen einen Fastentag im Jahr, dieser zeichnet sich „lediglich“ durch noch härtere Regeln aus. Fasten ist stärker im kollektiven Bewusstsein der Juden und in der Religion verankert, als es beispielsweise im Christentum der Fall ist.

Wenn z.B, im Deutschland des Mittelalters ein getötetes Kind in den Garten eines Juden geworfen wurde, so wusste bereits jeder in der Gemeinde, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis ein Pogrom gegen die angeblichen Mörder folgt. Daher hat der Rabbi in diesem Fall strenges Fasten für alle verordnet, um für mögliche Sünden zu büßen, die Gott vielleicht nicht gefallen haben.


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