Der sterbende Staat und die Abschaffung der Demokratie


„Es ist nicht so, dass die Aushöhlung der Demokratie droht. Die Demokratie ist schon weiträumig hohl. Und doch bringen wir unseren Kindern in Sozialkunde immer noch bei, in einer Demokratie bestimme ein gewähltes Parlament die Gesetze, an die der Staat, ein „Rechtsstaat“, dann gebunden sei. Dann haben wir auch eine Bundeskanzlerin, die auf dem Höhepunkt der Abhör-Affäre verkündete, auf deutschem Boden gelte deutsches Recht.

Provinzieller geht es kaum. Weiß sie wirklich nicht, dass hinter ihr, ja hinter dem Rücken aller Parlamente und des Wahl-Volks, seit Jahrzehnten ein ganz anderes Recht entwickelt wird? Ein Recht, das auf keinen „deutschen“ oder anderen „Boden“ mehr Rücksicht zu nehmen braucht (fachlich gesagt: ein „entterritorialisiertes“ Recht ohne Staat)? Es hätte gerade beim immer und überall grenzüberschreitenden Datenverkehr nahegelegen, nicht bloß den deutschen Boden im Blick zu haben.

Außer diesen Ämtern für die Informationstechnik gibt es dann auch auf der Ebene der Europäischen Union noch zwei weitere Agenturen, und zwar das Gremium Europäischer Regierungsstellen für elektronische Kommunikation (BEREC) in Riga und die Europäische Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Eu-LISA) in Tallin (Estland). Das „R“ in der Abkürzung BEREC (Body of European Regulators for Electronic Communication“) steht für „Regulatoren“; entsprechend ist das deutsche Bundesamt Mitglied im BEREC und befasst sich dort mit der regulatorischen Zusammenarbeit auf der EU-Ebene.

Die beiden genannten EU-Ämter sind nicht die einzigen in Europa: Es gibt hier insgesamt 44 Regulierungsbehörden, die sich mit allem befassen, was im Detail eine Zusammenarbeit in Europa erfordert. Von den meisten hat auch das politisch gebildete Publikum noch nie gehört, was verwundert, denn einige können, wie die EU-Kommission selbst mitteilt, „gegenüber Dritten rechtlich bindende Einzelfallentscheidungen treffen“. Dazu gehören etwa die European Aviation Safety Agency (EASA) und die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) und das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (HABM). Sie können Bestimmungen festlegen durch eine Verordnung, die im Normalfall in allen EU-Mitgliedsstaaten geltendes Recht ist („Durchgriffswirkung“). So auch bei einem Regelungswerk, das in der Auseinandersetzung um die derzeit geplanten Freihandelsverträge immer wieder als Vorbild genannt wird: Gemeint ist das von der ECHA erarbeitete Regelwerk REACH (Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals). Mit REACH ist das europäische Chemikalienrecht seit 2007 durchgehend harmonisiert.

Die 44 EU-Agenturen kann man sich unter den supranationalen EU-Verträgen noch miteinander verbunden vorstellen. Sie arbeiten – sei es im Auftrag der EU-Kommission, sei es selbstständig – und der Rat der EU beschließt mit dem EU-Parlament die Ergebnisse. So herrscht bei aller Dynamik der Beziehungen zwischen den EU-Organen und ihren nicht immer koordinierten Tätigkeiten eine gewisse Ordnung im europäischen Haus.

Eine der wichtigsten – und unbekanntesten – Gruppen (der ECHA vergleichbar) ist eine Konferenz mit dem sehr langen Namen International Conference on the Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use, abgekürzt ICH. Die ICH wurde 1990 von den Zulassungsbehörden der USA, der EU und Japans gegründet; sie hat die Aufgabe, Standards festzulegen für die Prüfung, Bewertung und Zulassung von chemischen Produkten für den menschlichen Gebrauch. Die sechs ursprünglichen Mitglieder der ICH waren die genannten Behörden der USA, der EU und Japans (FDA, European Medicine Agency und das japanische Gesundheitsministerium, MHLW) sowie außerdem die Industrieverbände der drei Gebietskörperschaften: Pharmaceutical Research and Manufacturers of America (PhRMA), European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPIA, 40 Unternehmen) und Japan Pharmaceutical Manufacturers Association (JPMA). Sie ist also eine „hybride“ Organisation aus Vertretern der Exekutive und Verbänden der Privatwirtschaft. Inzwischen sind auch die WHO, Kanada und die Schweiz dabei sowie der Weltverband der Pharma-Industrie (die International Federation of Pharmaceutical Manufacturers and Associations, IFPMA), der sowohl Verbände (etwa den Verband forschender Arzneimittelhersteller e.V.) als auch Pharma-Unternehmen aus allen Industrieländern vereint (aus Deutschland z.B. Bayer und Boehringer Ingelheim). Diese zehn Organisationen bilden den Lenkungsausschuss der ICH. Außerdem werden regelmäßig sieben regionale Regulierungsinitiativen und acht weitere Regulierungsbehörden (Australien, Brasilien, China, Indien, Russland, Singapur, Südkorea und Taipeh) zu den ICH-Treffen nach Genf eingeladen.

Die ICH ist selbstverständlich nicht die einzige globale Regulierungsstelle, die De-facto-Standards setzt. Vor etwa zwanzig Jahren gab es davon etwa hundert, heute sind es über zwölfhundert Organisationen (genau weiß es niemand), die – jede in ihrem Sektor – ein weltumspannendes Wirtschaftsrecht schaffen, an dem die Produzenten schon aus Eigeninteresse ihr Verhalten ausrichten. Einige „transgouvernementale“ Gruppen sind bekannter als die meisten anderen, zum Beispiel das Basel-Komitee (für die Banken-Regulierung), das Financial Stability Board oder das International Competition Network oder die angeblich nur prä-legalen Gremien wie die Codex Alimentarius Commission, die OECD (und ihre Kodizes). Aber was tun eigentlich der Pariser Club, der Londoner Club und das das IIF (International Institute of Finance)? Was harmonisieren das IMDRF (International Medical Devices Regulation Forum), die IAIS (International Association of Insurance Supervision), das Transnational Policing, der Forest Stewardship Council, das International Accounting Standards Committee? Was reguliert die WP29 der UNECE (United Nations Economic Council for Europe)?

Im Unterschied zu dem Recht, das traditionell in den Nationalparlamenten beschlossen wird, entsteht in diesen Organisationen ein globales Recht nicht durch irgendeine Vorlage im Parlament. Die weltweite Entwicklung dieses globalen Rechts wird deshalb auch nicht von Staaten oder „Regierungen“ („Government“) gesteuert, sondern mit dem unübersetzten Ausdruck „Governance“ oder auch bereits Economic Governance bezeichnet. Diese globale Economic Governance ist ein transnationales Recht ohne Staat und Parlament. Sie hat den Nationalstaat, wie wir ihn kennen, als hohles Relikt in der Vergangenheit zurückgelassen. Er darf sich, in der Gebundenheit an sein Territorium, noch um so lokale Angelegenheiten wie eine Maut oder eine Pendlerpauschale kümmern, soll aber in der Global Governance nicht mehr mitreden. Geschätzt werden allerdings noch seine zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung nötigen Gewaltmittel (Polizei und Armee).

Selbst wenn wir diese Argumente anerkennen, ist ein gut versteckter Vorstoß der EU-Kommission in den TTIP-Verhandlungen nur als Beihilfe zu einer Machtergreifung der Wirtschaftsverbände zu bezeichnen.

Es sind aber speziell für den Protest gegen TTIP zwei Dinge bedeutsam: Diese Regime sind keine Erfindung der Freihandelsverträge, und sie werden nicht mit ihnen verschwinden. Die Vielzahl der regelsetzenden globalen „bodies“ der Wirtschaft dürfte in Zukunft noch zunehmen. Und jedes dieser vielen Gremien legt für seinen spezifischen Wirtschaftsbereich die transnationalen Verfahren und Normen fest.

Es erstaunt nicht, dass diese Auffächerung der vielfältigen Regelsysteme die Aufmerksamkeit der Staatsrechtswissenschaft gefunden hat. In einem groben Überblick lässt sich sagen: Die europäischen Wissenschaftler befassen sich mehr mit der Frage, ob und wie die zahllosen „Regime“ mit einem hierarchisch höheren, sie überwölbenden rechtlichen „Dach“ versehen werden können (da überwiegt meist Skepsis) oder auch wie im Falle von Normenkollisionen zu verfahren sei. Die angelsächsischen Autoren gehen hier pragmatischer vor; für sie ist das Auseinanderfallen der Rechtssysteme historisch unvermeidlich und wird unter der Bezeichnung „Pluralismus der Regime“ hingenommen. Beide gehen dabei von der Tatsache aus, dass diese Regime (nicht zuletzt durch die Sprüche der Schiedsgerichte) tief in das Leben der Bürger eingreifen und damit öffentliche Gewalt ausüben. Das Gewaltmonopol des Nationalstaats besteht ihnen zufolge nicht mehr; der Staat ist nicht mehr Inhaber der öffentlichen Gewalt, sondern nur noch „Manager“ diffus verteilter transnationaler Rechtssysteme (Jurisdik­tionen). Gelegentlich wird diese Entwicklung als „Entparlamentarisierung“ und „Neues Mittelalter“ beschrieben: eine Zeit, in der jeder Einzelne ganz verschiedenen Rechtssystemen unterworfen war, der Kirche so sehr wie dem Reich, dem Fürsten so sehr wie (als Leibeigener) dem Leibherrn. Wer auf der im Nationalstaat noch definierten Selbstbestimmung beharrt, wird gelegentlich sogar als „souveränitätsfixiert“ verunglimpft.

Soweit die Rechtswissenschaft. Im Vergleich zu ihr bleibt das Schweigen der öffentlichen Diskussion ganz und gar unverständlich. Fast scheint es, als trotte die Gesellschaft freiwillig zurück ins vordemokratische Mittelalter.

Das Bundesjustizministerium hat da schon seine eigenen Methoden: Es vertreibt eine Werbebroschüre für „deutsches Recht“, wörtlich „Law – Made in Germany“ („global – effektiv – kostengünstig“). Es habe sich hier in der Schieds­gerichtsbarkeit „ein hochprofessioneller Anbietermarkt herausgebildet“. Ein paar Schritte weiter auf diesem Weg, und Recht und Gesetz, mit denen bisher eine souveräne Gesellschaft ihr Zusammenleben einzurichten versuchte, werden jetzt dem globalen Spiel von Angebot und Nachfrage überlassen. Irgendwann braucht man dann auch keine Bürgerinnern und Bürger mehr. Dann gibt es nur noch Käufer. Ein letztes Recht ist ihnen geblieben: die freie Produktwahl.”

Quelle und gesamter Text: http://gazette.de/die-gazette/archiv/gazette-47/analyse/articles/analyse-der-sterbende-staat-und-die-abschaffung-der-demokratie.html

Schwerer Tobak, aber wer TTIP (CETA, TPP, etc.), Entdemokratisierung und Konzernokratie verstehen will, muss das lesen!!!


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