Der Steppenwolf – Hermann Hesse


Wie nähert man sich einem der bekanntesten Werke der Weltliteratur, dem meistgelesenen deutschen Roman des 20 Jahrhunderts, in einer Rezension, wo doch anzunehmen ist, dass der Inhalt nahezu jedem Leser bekannt sein dürfte? Vielleicht ist es ja eine gute Idee, dies mithilfe der zahlreichen handschriftlichen Randnotizen und Unterstreichungen, die dieser speziellen Ausgabe von den vorherigen Nutzern beigebracht wurden, zu versuchen.
Der Steppenwolf – Hermann Hesse
Kernstück des prosaischen Meisterwerkes bildet das „Traktat vom Steppenwolf“, welches dem Protagonisten Harry Haller (nicht zufällig trägt dieser die Initialen des berühmten Autors) von einem befremdlich wirkenden Mann überlassen wurde, und in dem ganz direkt auf Harrys Leben Bezug genommen wird. Er sucht hierin nach Hinweisen, wie er mit seinen Selbstzweifeln und dem Konflikt zwischen seinen beiden Seelen, der wölfischen und der menschlichen, umzugehen hat und verschlingt die kurze philosophische Abhandlung gierig. Tatsächlich findet Harry hier ein paar wichtige Antworten und versöhnliche Aussagen, wie die, dass alle Menschen, nicht nur solche wie er, die ob ihres wilden, unangepassten Inneren mit sich und der Welt hadern, leiden müssen. Und dass selbst das unglücklichste Leben seine Sonnenseiten besitzt.
Denn dies ist ja eines der größten Probleme des Protagonisten (und vieler Leser): Einerseits lehnt er die verlogene bürgerliche Welt ab, andererseits fühlt er sich in ihr auch heimisch aufgehoben. Wer kann dem nicht beipflichten? In einer der handschriftlichen Randnotizen heißt es dazu: „Wie ich das teilweise bodenlose Niveau der Allgemeinheit hasse!... Normen sind Fesseln, denen wir uns fügen müssen“.
Und auch dem Rezensenten half das Buch als Erklärung und Versöhnung mit dem eigenen Ich, wenn im Traktat festgestellt wird, dass eines jeden Menschen Leben zwischen tausenden von Polen hin und her schwingt, dass niemand also immer im inneren Gleichgewicht mit sich selbst sein kann, sondern aus unzähligen Ich-Partialitäten besteht. Es gibt keinen Grund, mit dieser Tatsache zu hadern! Wir sollten sie erkennen, sie annehmen, uns selbst lieben. Der Weg zur Unsterblichkeit indes bleibt uns dadurch verschlossen. Dieser nämlich führt weg aus der Gesellschaft und überwindet dabei alle fesselnden Normen. Nur sehr wenige folgen ihm, und das ist auch gut so, denn diese Straße ist gar nicht breit genug, als dass sie alle Menschen gehen könnten. Sie ist "...wenigen Auserwählten vorbehalten, die durch Hingabe, Leidensbereitschaft und Gleichgültigkeit gegen alle bürgerlichen Ideale die zwangsläufige Vereinsamung zu erdulden fähig sind."
Fabelhaft, rührend und überaus menschlich (ein weiterer Beweis, dass Hesse die Menschen sehr gut studiert hat) ist dann der weitere Verlauf der Geschichte. Getrieben von suizidalen Gedanken trifft Harry auf ein junges, selbstbewusstes Mädchen, das es schnell schafft, eine weitere seiner unzähligen Saiten zum Klingen zu bringen. Es ist die größte Kraft, die uns mit auf unseren (Leidens-) Weg gegeben wurde und wohl die einzige, die ihn lohnenswert und erträglich macht: Die Liebe! Wunderbar modern erzählt Hesse von deren verschlungenen Pfaden und davon, was sie in uns auszulösen vermag. Der einsame Steppenwolf lernt das Leben in Gesellschaft, er tummelt sich auf philanthropischen Veranstaltungen wie Tanzbällen und genießt schließlich wie im Rausch die Aufmerksamkeit der Frauen, betört von deren unterschiedlichsten Düften. Wie sehr gönnt man ihm diese Erfahrung und wie gut kann man Harrys 180-Grad- Wendung wider seiner bestehenden tiefgreifenden Selbstzweifel nachvollziehen! Als Kommentar steht so schön trefflich am Rand: „Wie schnell er seine Psycho-Scheiße vergessen kann!“
In einer Szene des Romans hört der Steppenwolf drahtlose Musik aus einem der ersten Radioapparate, die zwar noch stark verrauscht klingt, doch weiß er, dass sich dies schnell ändern wird. Und hier folgert er mit einer Mischung aus erhabener Weisheit und einem gewissen prophetischen Spürsinn für unsere mediale Zukunft: dieses Gerät habe doch lediglich das zu Tage gebracht, was die alten Inder (und jeder Denker) schon immer wussten: Die Allgegenwärtigkeit aller Kräfte und Taten. Und außerdem, als hätte er die vorherrschende Mulimedialität des 21. Jahrhunderts vorhergesehen, die uns heute umgibt, weiß er, dass dies alles „… den Menschen nur dazu dienen werde, von sich und ihrem Ziel weg zu fliehen … und sich mit einem Netz von Zerstreuung und nutzlosem Beschäftigtsein zu umgeben“. Dass diese Feststellung am Rande als so wahr!“ kommentiert wird und einer der vorherigen Leser „darüber nicht lachen kann“ können sogar Smartphoneliebhaber gut nachvollziehen.
Selbst den Lesern, die sich nichts aus Fleisch machen, wird der Vergleich, den Harrys neue Freundin anführt - das Ablösen des köstlichen hellen Fleisches von einem Entenbeinchen ist so appetitlich und spannend ist, wie wenn ein Verliebter seinem Mädchen das erste mal aus der Jacke hilft - verständlich sein. Schließlich will uns Hesse hiermit nicht den Vegetarismus verderben, sondern sagen, was treffend im Randkommentar für die nächsten Leser festgehalten ist: „Du musst dich begeistern lassen können – ein Leben lang.
Dass Hesse von den Nazis verboten wurde, versteht sich von selbst. Wer so klar gegen Staat, Autoritäten und Krieg argumentiert wie der Steppenwolf, ist natürlich ein gefürchteter Gegner totalitärer Systeme. Harry verzweifelt an der Tatsache, dass die Menschen um ihn herum nur wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg mit nahezu ungebremster Lust auf den nächsten fürchterlichen Weltkrieg zusteuern. Und auch wenn er einsieht, dass er mit seinen Zeitungsartikeln gegen den Krieg die nächste Mobilmachung nicht wird verhindern können, so steht er doch dafür ein, es wenigstens zu versuchen. Dieser Donquichotterie wird am Rande dieser Ausgabe mit „Trotzdem sollte man sich darüber Gedanken machen“zugestimmt.
Im fulminanten Schlussakt des Buches, der in einem Magischen Theater angesiedelt ist, dass dem drogenberauschten Harry Haller übernatürliche Möglichkeiten eröffnet, durchlebt er eine Szene aus seiner Kindheit. Damals hatte er das erste Mal die Liebe gespürt, wenngleich diese noch eine keusche und kindliche war. Im Gegensatz zur längst vergangenen Realität hat Harry jedoch nun den Mut, Rosa anzusprechen, beichtet ihr seine überschäumende Liebe und genießt die Erwiderung seiner Gefühle . Nur Wenigen ist es vergönnt, diese Erfahrung auch im wirklichen Leben zu machen, doch soll es in der Tat auch solche Lieben geben, die 20 Jahre und mehr im Bereich des Unmöglichen und mit großer Verzögerung dann doch noch zum Blühen kommen. Am Rande steht an dieser Stelle steht im Buch in kleinen handschriftlichen Buchstaben: „Mir gefällt, wie geschickt Hesse die Fehlbarkeit der menschlichen Rasse darstellt. Denn schon zum zweiten Mal meint Harry, vorher noch nie so geliebt zu haben“. Was dann doch sehr versöhnlich stimmt und möglicherweise eine wichtige Grundaussage Hesses großartigen Werkes beinhaltet. Wäre es nicht unerträglich, wenn uns die Lasten unerwiderter, vergangener Lieben und die Zerrissenheit in Wolf und Mensch ein Leben lang quälten? Hesse zeigt uns, dass in dieser banalen Welt jeder, sogar der brummbärtige Steppenwolf, sein Glück finden kann, selbst wenn es nur Stunden oder Tage währt. Er muss es nur suchen – oder sich vom Glück finden lassen.

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