Der Stand der Dinge

Von Frontmotor
Seit fast einem Jahr bin ich zurück im Konzern. Heute ist Freitag, "Homeoffice"-Tag. Kein Stress mit der Bahn also, was sich schon fast wie Urlaub anfühlt.. Gelegenheit für eine kurze Reflexion.
Es fällt mir schwer, das was ich seit einem Jahr tue für Außenstehende verständlich zu beschreiben und was das mit meinen vorherigen Tätigkeiten zu tun hat.
Woran erkennt man von außen, dass ich meinen Job richtig mache? Ich würde sagen: Daran, dass wir die Parkplätze voller zur Zulassung anstehenden, aufgestauten, nicht in den Markt gekommenen Fahrzeuge leeren. Und zwar über die Konzernmarken hinweg. Und das ist uns voriges Jahr schon gelungen.
Die Schwierigkeiten voriges Jahr waren nicht, dass wir die Abgasnormen nicht mehr schaffen. Sondern dass wir viel mehr Modellvarianten testen müssen, um eine Typzulassung zu bekommen. Und das erfordert eine Orchestrierung der anstehenden Zulassungen, die die wichtigsten Modelle zuerst behandelt und jede Mitnahmegelegenheit von einem Modell zu einem anderen erkennen und mitnehmen.
Die relevanten Modelle entstehen heute vor allem durch Software auf Steuergeräten im Fahrzeug. Und wenn man seine Varianten nicht ordentlich sortiert, beschriftet und für andere zugänglich macht, dann findet man nichts. Dann kann man nichts planen und steuern.
Also braucht es ein Managementsystem, dass alle Beteiligten zusammenbringt und auf einen Plan schauen lässt. Ein System, das für jede Rolle nur Relevantes zeigt - und tagesaktuell ist.
Und das nicht mehr das alte V-Modell der Produktentwicklung zugrunde legt - linearen Fortschritt also- sondern den iterativen Charakter heutiger Softwareentwicklung berücksichtigt oder ausnutzt.
Aus der agilen, iterativen Steuergeräte-Softwareplattform-Entwicklung kommend, mit dem Wissen, wie solche Plattformen entstehen, stehe ich jetzt auf der empfangenden Seite und lasse die Fortschrittsindikatoren und Meilensteine in meinen Prozess einfließen.
Als ich ankam funktionierte das schon für die erste Anwendergruppe. Der prinzipielle Nachweis des eingeschlagenen Weges für die Entwicklung des Managementsystems war also erbracht. Aber die anstehenden Erweiterungen und die Komplexität, die durch die Einbindung weiterer Konzerntöchter und grundsätzlich neuen Fahrzeugarten entsteht, war noch nicht bedacht worden.
Meine ersten Aktivitäten betrafen also das Vorgehensmodell für die Weiterentwicklung des Managementsystems. Als Product Owner oder Anforderungsmanager für Enterprise Software fragt man dann immer als erstes nach den Quellen für die weiteren Anforderungen: Geschäftsprozessen und anderen verschriftlichten Regelwerken. Und wie so häufig in der technischen Entwicklung: da ist nicht viel. Grobe Vorgaben, aber man will "nichts in Stein meißeln".
Und da wo etwas ist, ist es zugriffsgeschützt. "Im Zweifel sagen wir nichts." ist derzeit die Devise vieler mittlerer Manager, die von der eigenen Obsoleszenz bedroht sind. Da gründet man hier eine "Redaktion", dort einen "Lenkungskreis" oder eine "Taskforce".
Man schlägt sich halt so durch, mit den wenigen gleichgesinnten Verbündeten die man so hat.
Als Experte auf dem Arbeitsmarkt ist es doch so: Deine potenzielle Hebelwirkung ist dort am größten, wo der Zustand am schlechtesten ist. Du wirst definitiv gebraucht. Aber Du bist auch sehr einsam. Musst weit herabsteigen von dem Niveau das Du Dir erarbeitet hast, um es auch dem letzten Widersacher zu erklären. Deine Chefs stehen zwar irgendwie hinter Dir, verstehen Dich aber auch nicht wirklich.
Im "Digital Lab" ist es ganz anders: Deine unmittelbare Umgebung versteht Dich sehr gut und macht motiviert mit. Du hast gute Sparringspartner, von denen Du lernst. Der Kampf mit denen am "anderen Ende" (wo ich bin) schweißt das "Lab" zusammen.
Im Laufe des letzten Jahres haben wir einige Widerständlicher zum Aufgeben gebracht und sie haben ihre Stelle gewechselt. Mein Vorgehensmodell hat sich im inneren Arbeitskreis etabliert. (Kaum jemand erinnert sich an den Kampf der ersten Monate ;-).
Gelernt habe ich wenig, gelehrt dagegen viel. Und so geht es auch ins zweite Jahr.