Ich kann keinen Spagat. Nein, wirklich nicht. Aber ich übe gerade. Tag für Tag. An manchen Tagen bin ich kurz davor, es zu schaffen. An anderen Tagen bin ich dem Scheitern so nah.
Und ich will nicht scheitern. Denn ich kämpfe schließlich für etwas so Wichtiges. Für das Glück und Wohl zweier kleiner Menschen, die mich so sehr brauchen. Genau deswegen: Sie brauchen mich.
Doch jeder von ihnen braucht mich mehr, als ich ihnen geben kann. Denn meistens brauchen mich beide gleichzeitig. Da ist dieses winzige, zarte Wesen – mein kleines Mädchen – das gerade so viel Nähe und Aufmerksamkeit braucht. So viele Ereignisse, so viel Neues strömt Tag für Tag auf sie ein. Damit klar zu kommen ist im Moment ganz schön schwer für sie. Darum weint sie viel und heftig. Und es ist nicht leicht, sie in solchen Momenten schnell zur Ruhe zu bringen. Es fällt ihr auch schwer, in den Schlaf zu finden. So kommt es vor allem tagsüber immer häufiger vor, dass sie nur ganz nah bei Mama einschlafen kann. Und dann liegt sie da auf meinem Bauch, endlich friedlich eingeschlafen. Weglegen unmöglich. Dabei war es am Anfang alles so einfach mit ihr.
Dann steht plötzlich ein kleiner Junge mit großen Augen vor mir. “Mama, komm spielen!” Und dann? Erleichtert, dass die Kleine endlich eingeschlafen ist, muss ich ihn vertrösten. Wenn ich sie jetzt weglege, geht alles wieder von vorne los. Er versteht das, geht alleine spielen. Doch es bricht mir das Herz. Immer wieder. So oft muss mein Sohn zurückstecken seit seine Schwester da ist.
Bitte sei etwas leiser. Ich habe jetzt keine Zeit. Wir spielen später. Bitte weck Deine Schwester nicht wieder auf. Ich kann Dir jetzt gerade nicht helfen. Du musst Dich beeilen, das Baby hat Hunger. Sei nicht so wild, sie ist noch zu klein dafür.
Solche Sätze hört er ständig. Und jedes Mal, wenn ich mich so etwas sagen höre, habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich versuche immer ihm zu erklären, warum das alles so ist. Erzähle ihm von der Zeit, als er noch so klein war. Und ich glaube, dass er all das versteht. Trotzdem braucht er noch so viel von mir. Auch wenn er jetzt der Große ist – er ist doch noch so klein. Und er ist frustriert. Unterfordert. Das macht ihn oft wütend. Dazu hat er jedes Recht. Und obwohl ich das weiß, überfordert mich seine Wut immer wieder. Manchmal erkenne ich, wenn es brenzlig wird. Und bevor es eskaliert, greife ich ein. Versuche beruhigend auf ihn einzureden. Frage ihn, warum er wütend oder traurig ist, motiviere ihn, seine Wut in Worte zu fassen. Nehme ihn in den Arm, auch wenn er das in dem Moment eigentlich gar nicht will. Ich wiege ihn sanft. Ich schaukle ihn. Das Schaukeln war mir neu, aber seit ich darüber gelesen habe, tue ich es in solchen Situationen und es hilft ihm. Er kommt zur Ruhe, entspannt sich wieder. Die Wogen sind geglättet.
Doch das gelingt mir nicht immer. Besonders schwierig wird es, wenn das Baby unaufhörlich schreit. Das macht ihn schier wahnsinnig. Manchmal verlässt er den Raum und macht die Tür hinter sich zu, um dem Lärm zu entgehen. Oder aber er wirft Dinge durch die Gegend. Er wirft alles, was ihm in die Quere kommt. Während meines vergeblichen Versuchs, die Kleine zu beruhigen, habe ich übersehen, dass auch er unter der Situation leidet. Und gerade dann reagiere ich auch noch mehr als gereizt und so schaukeln wir uns gegenseitig hoch, bis zur Eskalation. Dann bleibt nur noch, die Kleine wegzulegen, die ich in meiner Stimmung eh gerade nicht beruhigen kann. Eins nach dem anderen. Es wird nach einer Lösung gesucht, meinen Sohn zu beruhigen. Manchmal tobt er so sehr, dass ich nicht mehr weiter weiß. Doch irgendwann kriegen wir schließlich wieder die Kurve. Durchatmen. Und sich dann wieder dem schreienden kleinen Bündel zuwenden.
In dem Moment, wo bei allen wieder Ruhe eingekehrt ist, spüre ich vor allen Dingen eines: Erschöpfung. Zwischen Wachstumsschub und Wut, zwischen Baby und Kleinkind, zwischen tragen und spielen bleibt nicht viel für mich, um durchzuatmen, Kraft zu tanken. Vieles kann ich nicht genießen. Oft bleibt nicht mal Zeit für Notwendiges. Etwas Essen, trinken, zur Toilette gehen.
So wie heute. Ich konnte die Kleine in die Wiege legen, endlich. Sie schlief. Bestimmt seit einer Stunde musste ich schon zur Toilette. Mein Sohn witterte jedoch seine Chance, dachte sich, dass ich jetzt endlich Zeit zum Spielen hätte. Als ich die Toilettentür hinter mir schloss, brach er in Tränen aus, weinte bitterlich. Natürlich beruhigte er sich schnell wieder, ich war ja nicht lange weg. Doch es spiegelte deutlich wider, dass er nicht genug Aufmerksamkeit bekommt. So wird jede Schlafphase der kleinen Schwester zum Spielen genutzt. Wenn ich gerade dann hungrig bin, wird das ignoriert. Das muss warten. Ich stelle meine eigenen Bedürfnisse hinten an, weil die Kinder wichtiger sind.
Es klappt schließlich auch meistens ganz gut, zu dritt am Tisch zu sitzen. Wenn die Kleine wach ist, beschäftigt sie sich mit einem Spielzeug oder lutscht auf ihrer Hand herum, mein Sohn und ich essen gemeinsam. Ich sagte, das klappt meistens. Aber eben nicht immer. Und dann? Ist sie diejenige, die zurückstecken muss. Dann kommt es vor, dass sie weint, bis wir mit dem Essen fertig sind. Weil ich meinen Sohn nicht allein am Tisch sitzen lassen will, um mit ihr durch die Wohnung laufen zu können. Ich hasse es, sie weinen zu lassen. Aber manchmal funktioniert es einfach nicht anders. Und da ist es wieder: das schlechte Gewissen. Es meldet sich immer wieder in den Momenten, in denen ich mich am liebsten teilen würde, um beiden gerecht zu werden.
Aber es meldet sich auch, wenn es eigentlich einen Grund gibt. Wenn das Mädchen fröhlich brabbelnd unter ihrem Spielbogen liegt und ich die Gelegenheit nutze, mit meinem Goldjungen zu spielen, denke ich manchmal, dass mir die Zeit fehlt, sie so zu fördern, wie ich es bei ihm konnte. Pausenlos mit ihr zu reden, zu singen, sie zu animieren.
Und dann wird mir wieder bewusst, dass ich es auch bei ihm nicht mehr in dem Maße kann, wie er es benötigt. Er ist so neugierig, so wissenshungrig, saugt alles auf wie ein Schwamm, lernt in Windeseile, merkt sich alles, was man ihm beibringt. Und er braucht Bewegung, muss sich auspowern, seine Energie freisetzen. All das konnte ich ihm geben, als er noch der alleinige Mittelpunkt war. Doch jetzt ist vieles unmöglich.
So stehe ich da, zwischen diesen beiden wundervollen kleinen Menschen. Liebe und Zerrissenheit, Stolz und Selbstzweifel, kraftlos und doch voller Energie – ich möchte ihnen so viel geben, viel mehr, als es mir möglich ist – jedem das, was er braucht, was er verdient. Stattdessen bekommt jeder nur ein bisschen.
Und dann bin da noch ich. Während ich versuche, den Spagat zwischen beiden Kindern hinzukriegen, bleibe ich irgendwie auf der Strecke. Zu wenig Schlaf, zu wenig gesundes Essen, zu viel Schokolade, zu wenig Zeit, meine Akkus wieder aufzuladen. Die nur wenig erholsamen Nächte sind mir zum Feind geworden. Ich nutze jede Minute, bleibe so lange wie möglich liegen, auch wenn ich meistens doch wach bin. Mein inzwischen mehr als spärliches Schönheitsprogramm wird meistens erst abgefrühstückt, wenn Papa abends nach den Kindern guckt – sehr zu seiner Unzufriedenheit. Und auch hier wieder: schlechtes Gewissen. Im Haushalt wird nur das allernötigste gemacht. Und das sieht man dem Haus auch an. Fazit: schlechtes Gewissen (aber nur ein kleines bisschen). Am Wochenende ertrinke ich in Wäschebergen, bin gefühlt den ganzen Tag damit beschäftigt. Zu wenig Zeit für die Familie: schlechtes Gewissen. Und dann ist da immer wieder die Sehnsucht nach einer Auszeit. Einfach mal nur an mich denken. Kommt selten vor. Aber ist dringend nötig, um sich über Wasser zu halten. Eine Auszeit kann Wunder bewirken, schenkt neue Kraft für die wichtgen Dinge im Leben! Ja, ich muss mal wieder raus. Wenn auch nicht ganz ohne schlechtes Gewissen.
“Ich liebe Dich, Mama!” Worte, die mich aufblühen lassen. Ein strahlendes Lächeln. Das Herz geht auf! Und dann weiß ich wieder, warum ich das alles tue. So anstrengend es auch manchmal ist, so wunderschön sind dann solche Momente. Der Lohn für so mancherlei Kummer, Tränen, Schweiß und Sorgen: pure Liebe!
Und dann sagte mein Mann neulich: “Es wird jetzt nur noch besser!” Und ich weiß, er hat recht. Es wird einfacher, auch wenn es immer mal wieder kleine Rückschläge gibt, auch wenn ich immer wieder kurz vor dem Scheitern stehe, weil ich glaube, ich mache es nicht gut genug. Durchatmen und weitermachen. Denn die Liebe meiner Kinder zeigt mir, dass ich doch verdammt viel richtig mache.
Spagat? Muss man das wirklich können? Nein. Es reicht, wenn man es versucht. Und irgendwann wirst Du merken, dass Du Dir viel zu viele Gedanken gemacht hast – und wirst drüber lachen, wie oft Du gestürzt, aber immer wieder aufgestanden bist.