Der mittelalterliche Theologe Joachim von Fiore berechnete zum Ende des 12. Jahrhunderts den Weltuntergang auf das Jahr 1260. Seine Weltalterlehre mit der darin gipfelnden Apokalypse war so zu seiner Zeit so populär, dass sich der Franziskanerorden beinahe gespalten hätte. Die Erde drehte sich dennoch 752 weitere Male um die Sonne, aber die Untergangspropheten ließen trotz mangelnden Erfolgen nicht nach, immer neue Prognosen, gespeist aus obskuren Berechnungsgrundlagen, unter das endzeitsüchtige Volk zu bringen.
Das Dilemma des ständig neu erwarteten und stets ausbleibenden Weltuntergangs hat sich tief in die abendländische Seele gegraben. Mit der Durchsetzung des Christentums in Europa wurde auch dessen lineares Zeitkonzept, welches mit dem Schöpfungsmorgen beginnt und dem Jüngsten Gericht endet, allmählich etabliert. Die Antike kannte noch mehrere Modelle, wo z.B. ein zyklisches System ebenfalls denkbar war; jeder durfte sich seinen Präferenzen entsprechend ein Zeittypus auswählen. So erwies sich die Übernahme des durchaus sympathischen Christentums mit dem Beharren auf der Alleingültigkeit seines Zeitmodells in großen antiken Bevölkerungsschichten als schwierig, da diese Form des Paternalismus schon weit reichend war. Als größtes Problem ergab sich die Zeitbestimmung der unausweichlichen endgültigen Apokalypse.
Wenn die Zeit schon endlich strukturiert ist, wäre es auch von Vorteil, zu wissen, wo man sich gerade auf dem Zeitstrahl befindet und wann die Welt nun tatsächlich untergeht, was allein lebenspraktische Belange besser planbar macht. Die ersten Anhänger Jesu, unmittelbar nach seinem Tod, erwarteten seine Wiederkunft und das damit einhergehende Weltenende noch zu ihren Lebtagen. Die Apokalypse konnte also in den nächsten fünf Jahren, innerhalb des laufenden Jahres oder sogar an diesem Nachmittag stattfinden. Das hatte ganz praktische Konsequenzen: man musste den neu entstanden Glauben nicht erst mit Schriften und Riten kanonisieren, da dies ja nur für eine fern liegende Zukunft notwendig gewesen wäre, die man ohnehin schon ausschloss. Das Ausbleiben der unmittelbaren Parusie (Wiederkunft Christi) änderte die Situation und man musste sich also doch vorerst auf der sich beharrlich stabil zeigenden Erde einrichten und gewisse Vorkehrungen für eine Zukunft treffen, von der man zwar immer noch nicht wusste, wie weit sie reichen wird, aber dass sie irgendwann enden wird, wurde zu einer intuitiven Gewissheit.
Der Weltuntergang blieb bisher aus, das Bedürfnis seinen Zeitpunkt zu bestimmen, erregt die Menschen nach wie vor. Gerade zu Ereignissen wie der Sonnenfinsternis über weiten Teilen in Europa 1998, die Jahrtausendwende zwei Jahre später oder der 11. September 2001 sind ideal deutbare Zeichen eines sich scheinbar auflösenden Kosmos. Nur allzu sichtbar wirkt in solchen Momenten die gewohnte Ordnung durch ein höheres Prinzip durchbrochen zu werden, selbst wenn man diese Abweichungen ganz rational im Voraus prognostiziert hat; die Fazitnation am bevorstehenden Ende behält die Oberhand, selbst wenn es in den Vorstellungen der meisten Menschen nicht mehr in der Form biblischen Schilderung, wie sie in der Offenbarung des Johannes dargelegt wurde, abläuft. Längst wurde die Apokalypse durch Atomkrieg, Klimawandel, internationalen Terrorismus und Killerviren säkularisiert. In diesem Jahr hat das Ende der Zeit und ihre Verkünder mal wieder Hochkonjunktur; am 21. Dezember 2012 endet der Maya-Kalender. Dass es ein reiner Zufall sein könnte, dass die vorläufigen Berechnungen einer Hochkultur, die schon vor Jahrhunderten aufhörte zu existieren, enden, scheint den Untergangspropheten weniger sinnvoll zu sein, wie es der gesunde Menschenverstand eigentlich nahe legt. Das Urbedürfnis nach einer exakten Bestimmbarkeit des Weltenendes, gegründet auf der Vorstellung in einer endlichen Zeit zu leben, ist eben stärker als sein vernunftgemäßes ausklammern.
Neben Hobbymathematikern und immer wieder neuen Nostradamusexegeten setzen sich insbesondere Künstler mit dem Weltuntergang in ihren Werken auseinander, die mittlerweile so vielfältig sind, dass eine Kulturgeschichte derselben mehrere Bände füllen könnte. So steht man allein in der bildenden Kunst vor einem Ensemble von Gemälden, die von damals theologisch geltenden und streng ausformulierten Vorstellungen (z.B. „Das jüngste Gericht“ von Hieronymos Bosch) bis hin zu apokalyptisch anmutenden Phänomenen der Gegenwart, wie im Fall des Triptychon „Der Krieg“ von Otto Dix reichen. Auch die Filmkunst hat außerhalb der Zombiewelt, die beinahe schon als selbstständiges Apokalypsensubgenre gelten kann und schlichten Unterhaltungsfilmen wie Roland Emmerichs „2012“, wobei der Titel natürlich mit dem erwähnten Ende des Maya-Kalenders spielt, einiges zu bieten. Besonders hervorheben möchte ich hierbei eine ziemliche Überraschung des vergangenen Kinojahres: Lars von Triers „Melancholia“.
Jener Film behandelt zwar u. a. den Weltuntergang, jedoch bildete er nicht den thematischen Schwerpunkt, sondern hat vielmehr die Funktion, menschliches Seelenleben in der denkbar schwersten Katastrophe abzubilden. Der Regisseur bedient sich dabei einem gut aufeinander abgestimmten Instrumentarium an Bildern, Plot, Musik, Akteuren, Landschaften usw., die in ihrem Zusammenspiel eine apokalyptische Stimmung evozieren, die vielmehr auf das menschlich Innere als auf die faktisch äußere Welt abzielt. So beginnt der Film mit dem Augenaufschlag der einen Protagonistin namens Justine (gespielt von Kirstin Dunst), der in ihren trüben Blick schauen lässt; um sie herum stürzen die Vögel in Zeitlupe vom Himmel. Es folgt die Aneinanderreihung von surrealistischen Bildern, wo sich beispielsweise Justin in ihrem Hochzeitskleid versucht fortzubewegen, während schwarze Schnüre ihre Beine umfangen halten; einige Bilder werden später im Film erläutert, mit anderen bleibt der interpretationsgereizte Zuschauer allein. Nebenher gibt es Aufnahmen aus dem All, wo zu sehen ist, wie sich ein wunderschön blauer, riesiger Planet direkt auf die um ein vielfaches kleinere Erde zu bewegt, um irgendwann schlussendlich mit ihr zu kollidieren.
Musikalisch begleitet wird dieser Bildzusammenschnitt von der Ouvertüre „Tristan und Isolde“ Wagners – übrigens die einzige Filmmusik, da dasselbe Motiv in darauf folgenden Szenen immer wieder in unterschiedlicher Länge aufgegriffen wird. Nach dem Crash beginnt der eigentliche Plot, der zweigeteilt ist. Der erste Part ist mit dem Titel „Justine“ überschrieben und behandelt die Hochzeitsfeier eben jener auf dem üppigen Anwesen ihres Schwagers (Kiefer Sutherland). Die Feier gerät zum Fiasko und allmählich wird erkennbar, dass die Braut schwer depressiv ist, was ihre Familienangehörige nicht davon abhält, in ihrem Auftreten – jeder auf seine Art – zu versagen. Am Ende des Abends hat sie weder den gerade geheirateten Ehemann, noch ihren Chef, der sie zu Beginn der Feierlichkeiten beförderte, ganz zu Schweigen von ihrer Kernfamilie: Die Mutter, welche mit einer zynischen Ansprache beim Essen für den ersten Eklat der Feierlichkeiten sorgt, bleibt in ihrer Generalabsage an alle Formen zwischenmenschlicher Beziehungen allein, ebenso wie der Vater in seiner neuen Rolle als alternder Galant mit zwei weiblichen Begleitungen seiner nach Hilfe suchender Tochter nicht zu helfen vermag. Ihre Schwester Charlotte versucht als Ausrichterin des Abends die Etikette der in sich maroden Hochzeitsgesellschaft in aller Strenge zu wahren, was angesichts der Ereignisse unmöglich wird. Sie ist auch die Namensgeberin der zweiten Filmhälfte: „Charlotte“.
Gespielt von Charlotte Gainsbourg (der Tochter des berühmten französischen Chanson-Sängers Serge Gainsbourg) zeigt der zweite Part ihre Pflege und Bemühungen um die depressive Schwester Justine, die einige Zeit nach der Hochzeit eine Art Totalzusammenbruch erlitten hat und sich nun wieder auf dem Anwesen von Charlotte und dessen Ehemann befindet. Dies erweist sich als schwieriges Unterfangen, da die Patientin die elementarsten Lebensbereiche wie Körperhygiene nicht mehr allein bewältigen kann. Selbst das Lieblingsessen weist sie mit der im Schluchzen vorgetragenen Aussage „Das schmeckt nach Asche“ zurück. Währenddessen rückt der bedrohliche Planet Melancholia vermehrt in die abgebildete Lebenswelt. Der Ehemann Charlottes bzw. Schwager Justines kann die Ankunft des Himmelskörpers kaum erwarten, da er es für ein harmloses – aber gigantisch zu betrachtendes – Naturschauspiel hält und bereitet sich mit seinem Sohn auf das Ereignis des vermeintlichen ‚Vorbeiflugs’ mit der Akribie eines Hobby-Naturwissenschaftlers vor. Charlottes Angst vor dem bevorstehenden Ereignis werden durch Gerüchte aus dem Internet geschürt, doch die Beschwichtigungsversuche ihres Mannes beruhigen sie vorerst…
Mit der zunehmenden Gewissheit des unabwendbaren Weltuntergangs verschiebt sich das Kräfteverhältnis. Die einst durch ihre Depressionen geschwächte Justine gewinnt mit anwachsender Bedrohung an Stärke, auch ihrer Schwester gegenüber, die beinahe an Grausamkeit grenzt. Charlotte versucht sich an jeden hoffnungsversprechenden Strohhalm zu klammern, was ihre Schwester in der neu gewonnenen Stellung zu vereiteln weiß. In einem Dialog, in dem Charlotte Spekulationen über mögliches anderes Leben im Universum anstellt, weist sie ihre Schwester kühl zurück: „Es gibt Dinge die ich weiß. Und wenn ich sage, dass da nichts ist, dann ist das so.“ Justine kann zwar ihrer Schwester und dessen Sohn keine vergeblichen Hoffnungen mehr machen, hilft ihnen aber insgesamt die grausame Tatsache so gut wie möglich zu ertragen.
Wer Filme von Lars von Trier kennt, fühlt sich unweigerlich an sein Vorgängerwerk „Antichrist“ erinnert. Das kommt nicht von ungefähr und liegt nicht ausschließlich daran, dass in diesem Film auch Charlotte Gainsbourg eine Hauptrolle spielt. Die Bildsprache und viele andere wesentliche Elemente sind schon hier auffindbar. In diesem Film geht es um ein Ehepaar, dass den Tod ihres kleinen Sohnes, der sich während ihres Beischlafes aus dem Fenster stürzt, zu verarbeiten sucht. Die Trauer der Frau scheint kein Ende zu nehmen und ihr Mann entschließt sich irgendwann zu einem Tabubruch, indem er seine eigene Frau im abgelegenen Familiendomizil namens „Eden“ mitten im Wald therapiert.
Die Bilder, die dem Zuschauer dargeboten werden, sind in ihrer schwermütigen Stimmung denen von „Melancholia“ gleich. Nur arbeitet von Trier hier mit einer Art von Vexierbildern, wenn z.B. ein einsames Reh auf einer idyllischen Lichtung zu sehen ist, beim zweiten Blick aber ersichtlich wird, dass beim gleichen Reh eine Fehlgeburt am hinteren Ende des Körpers heraushängt. Es sind schizophren-schöne Aufnahmen, die einerseits das von Menschen in die Natur hineingelegte Idyll bekräftigen, aber auch sofort den Fokus auf das grausame Unverhandelbare in der amoralischen Natur lenkt. So sagt die Protagonistin an einer Stelle ganz pointiert: „Die Natur ist Satans Kirche.“ Hier wird die Wunde offen zur Schau gestellt, die der Depressive zu tragen hat. An nichts mehr Freude entwickeln zu können, selbst an vordergründig unschuldigen Dingen, wie der unvoreingenommenen Betrachtung der Natur ist schon an sich nicht möglich, da die ‚unvoreingenommene Betrachtung’ nur eine Fiktion ist; man legt schon eine Empfindung mit hinein.
Oder mit den Worten von Roger Willemsen: „Dann überlegten wir, ob man Landschaften überhaupt anders als symbolisch betrachten könne, korrespondiert doch jeder Hügelzug, jeder schimmernde See, jede Lichtstimmung über dem Tal einer inneren Situation, sei sie lieblich oder fahl oder roh. Eigentlich nimmt man doch jede Landschaft musikalisch, als eine Manifestation von etwas Seelischem.“ Dank des Vexierbildes lässt uns Lars von Trier durch die Brille des Depressiven auf mutmaßlich harmlose oder gar angenehme Dinge einen Abstand zu unserer eigenen trainierten Naturwahrnehmung gewinnen. In „Melancholia“ verfährt er nach einem gewissermaßen spiegelverkehrten Konzept: Die evident bedrohlich zerstörerischen Elemente werden überhöht und in solch einer Weise ästhetisiert, dass sie für den kurzen Moment der Darstellung überhaupt nicht mehr bedrohlich, sondern nur noch für vorurteilsfrei schön gelten können. So rekelt sich in einer Nacht-Szene Justine nackt am Flussufer unter dem blauen Licht des der Erde bereits sehr nahen Planeten, der für die Vernichtung der Menschheit verantwortlich sein wird. Es ist ein derart aufgeladenes Bild, das ohne Kenntnis des Kontextes sogar als kitschig missdeutet werden könnte.
Nach Eigenaussage des Regisseurs wollte von Trier in „Antichrist“ seine eigene Depression thematisieren und mit „Melancholia“ therapieren. Es ist somit kein klassischer ‚Weltuntergangsfilm’, der auf das Bedürfnis eingeht, ganz plastisch die Apokalypse darzustellen oder sogar ihren Zeitpunkt zu bestimmen. Er stellt eher der Versuch dar, das Leiden an der Welt in einem künstlerischen Prozess zu sublimieren, auch wenn dies den (in diesem Fall sehr schönen) Untergang jener leidensvollen Welt zur Folge hat. In dem Verhältnis des Individuums zur Welt ist auch die Kräfteverschiebung der Schwestern zu verstehen, denn wer das Leben in all seinen Erscheinungsformen für nichtig hält, wird auch mit dessen totalen Auslöschung besser zurecht kommen, als jemand, der sein Glück, seine Hoffnungen und Zukunftsaussichten in diese hineingelegt hat.
Ein weiteres Indiz, das gegen das klassische Weltuntergangsdrama Hollywoods spricht, ist der fest abgegrenzte Raum, in welchem sich die Figuren bewegen. Das weitläufige Anwesen mit dem ihm umgebenen Golfplatz ist alleiniger Spielraum, in dem die geschilderten menschlichen Schicksale ablaufen. Ein Ausritt der beiden Schwestern endet an einem Bach, den das Pferd Justines auch unter heftigsten Schlägen nicht überqueren möchte. Auch die verzweifelte Irrfahrt der Mutter mit ihrem Kind im Golfwagen endet genau an dieser Stelle.
Trotz der räumlichen Einschränkung im Film wirken die Akteure in ihren großzügigen Grenzen sehr verloren, wie einzelne Bilder immer wieder sehr deutlich machen; so wie der Mensch im Bewusstwerden seiner Existenz in einem schier unendlichen All. Es wird ebenso auf Fernsehbilder aus aller Welt genau wie auf Illustrationen einer urbanen Massenpanik verzichtet, die den Unterhaltungsfilmen immer viel Spielraum für Spezialeffekte liefern. Die individuellen menschlichen Tragödien in ihrem Gefüge zueinander sind genugsam der globalen Katastrophe ein menschliches Antlitz zu geben. Dem Dänen Lars von Tier attestiere ich, sein Vorhaben gelungen umgesetzt zu haben, welches darin bestand „einen wunderschönen Film über den Weltuntergang“ zu drehen.