Der Schrei
II.
Eines späten Nachmittags hatten die Schwestern, weil die Station heillos überbelegt war, einen jungen Mann mitsamt Bett zu Hannes ins Zimmer geschoben, den sie bislang, meist aus Rücksicht auf die anderen Patienten, alleine gelassen hatten.
In seiner Andacht gestört, steigerte Hannes sich in lautes Beten hinein, woraufhin ihm Schwester Renate eine kräftige Beruhigungsspritze gab und er weg dämmerte.
Es wurde Abend. Der junge Mann war während des Fernsehens eingeschlafen, der Apparat lief noch. Durch das wechselnde, bläuliche Licht des Fernsehbildes flackerte es im Zimmer wie bei einem Gewitter; und als Hannes aufwachte, da schien ihm, als donnere es, und der laut eingestellte alte Apparat dröhnte die dunkle Stimme des Sprechers hervor:
„Vakuumaspiration!“
Es lief ein Dokumentarfilm über Schwangerschaftsunterbrechungen. Hannes sah eine halbnackte, anästhesierte Frau mit gespreizten Beinen auf einem gynäkologischen Stuhl sitzen. Dann fuhr die Kamera in ihren Unterleib. Er starrte in die Gebärmutter einer Schwangeren, und die nächste Einstellung zeigte einen Embryo in Großaufnahme. Düsteres Orgelszenario hörte Hannes im Hintergrund. Wie eine Schlange sich windend, bedrohlich, weil fremd wirkend in dem warm ausgeleuchteten, umsorgenden, mütterlichen Organ, schob sich ein roter, steriler Schlauch ins Bild. Der Kamera-Ausschnitt wechselte, und Hannes blickte, nun aus der angenommenen Perspektive des Embryos, auf die Spitze des für den Betrachter aus dieser Sicht riesig aufragenden Schlauches. Hannes sah die Schlange auf sich zukommen, wie Michael dereinst den Drachen, und nässte ins Bett.
Die Perspektive wechselte wieder, und die Spitze des Schlauches, an der, deutlich ins Bild gebracht, die seitliche Öffnung zu sehen war, tippte den Embryo an, so dass er im Fruchtwasser leicht hin und her schwappte. Schnitt, die Musik brach ab. Im Bild ein Arzt im Gespräch mit einer Krankenschwester. Sie drückte auf sein Nicken hin einen Knopf an einer kompliziert wirkenden Apparatur und… Schnitt, Sprecher aus dem Off: „Jetzt wird ein Unterdruck von 0.8 Atü erzeugt“, während die Kamera voll auf den Embryo hielt, welchen ein leises Zittern durchlief. Die Musik setzte wieder ein, Trommeln und Orgel sich steigernd, lauter und lauter werdend in Hannes Ohren. Und vor seinen entsetzt geweiteten Augen hob die Schlange ihren grässlichen Kopf, öffnete sie ihr grässliches, rotes Maul, und schwer atmend, unwillkürlich die Worte der heiligen Offenbarung hervorstoßend, starrte Hannes ihr in den Rachen:
„…und siehe, ein großer roter Drache, der hatte sieben Köpfe und zehn Hörner und auf seinen Köpfen sieben Kronen, und sein Schwanz fegte den dritten Teil der Sterne des Himmels hinweg und warf sie auf die Erde. Und der Drache stand vor der Frau, die gebären sollte, um ihr Kind zu fressen, sobald…“ Da drückte der junge Mann, aufgeweckt durch Hannes laute Stimme, die Lautstärke des Fernsehers rauf, um die Litanei zu übertönen, und ekelerregend deutlich hörte man ein Geräusch, wie ein Schlürfen, wenn der Becher zur Neige geht, und mit diesem Schlürfen brach der Schrei aus Hannes heraus: der Embryo wurde in Großaufnahme durch den Unterdruck auseinandergerissen, und: GOTT SCHRIE DA! GOTT SCHRIE DA! brach die Erkenntnis über Hannes herein. Er meinte, taub zu werden, dem Todesschrei dieses zerfetzten Wesens, aus dem Gott schrie, nicht standhalten zu können, wahnsinnig zu werden, mitzusterben, ohnmächtig mit hinweg gerissen und von der Schlange verschlungen zu werden.
Dies war der Augenblick, in dem Hannes offenbar wurde, dass der Teufel sie alle in die ewige Verdammnis und Gottesferne reißen würde, wenn er sich der Schlange nicht entgegenstellen, wenn er der Bestie nicht die bereits geraubten Seelen aus dem Maule reißen würde, um ihre Herzensreinheit wiederherzustellen, sie für das ewige Leben zu retten: wenn er den Schwankenden nicht ein deutliches Zeichen für den wahren Weg setzte. Hannes dankte Gott für diese Gnade, ihn erwählt, ihn aus der Machtlosigkeit gegen die Sünde befreit zu haben, für das Charisma. Und da verstummte der Schrei, und es ward still um ihn.
„Endlich!“ schimpfte der junge Mann, den Hannes Aufschrei erschrocken hatte, und Hannes hatte selig gelächelt und zur Antwort gegeben:
„Ja, endlich!“
Ende der Leseprobe aus dem Roman „Engel spucken nicht in Büsche: Roman über Liebe, Tod und Teufel“, des zweiten Teils des für die Figur des Mörders zentralen Kapitels „Der Schrei“.
Den ersten Teil des Kapitels findet Ihr hier…
Zum Roman:
Engel spucken nicht in Büsche: Roman über Liebe, Tod und Teufel
Der Tod ist in die Stadt gekommen, und er ist auf einer Mission. „Abtreibungskiller“ nennt ihn schon bald die Presse. Der Polizei gelingt es nicht, den heimtückischen Frauenmörder zu stoppen. Gelingt dies Hartmut, dem Krankenpfleger mit einer ausgeprägten Vorliebe für Prostituierte? Der Tod ist in die Stadt gekommen, und düstere Visionen quälen den aufstrebenden Künstler Krish. “Kann es sein, dass ich nicht nur male, was war, sondern auch, was sein wird?” Wo ist seine große Liebe Helen? Ist ihr etwas zugestoßen? Nein. Ja. Aber sie lebt. Noch. Denn nun ist der Mörder auf dem Weg zu ihr.
“Engel spucken nicht in Büsche” – eine packende Geschichte. Lebendige Figuren, die Sie nicht vergessen werden. Starke Frauen. Ein teuflischer Mörder. Männer zwischen Sehnsucht und Furcht, getrieben. Ein Krimi. Ein Roman über den Verlust der Unschuld. Erotisch. Hart. Zärtlich. Schonungslos. Ein spannendes Buch über Hoffnung und Schmerz, über Liebe, Leid und Lust.