Der Schrei
I.
Für Hannes war es eine Schmach gewesen, letztlich vor seinem Körper kapitulieren zu müssen, aber wie ihm dann aufgegangen war, war dies die notwendige Demütigung gewesen, die ihn bereit machte.
Er hatte im Laufe der Jahre gelernt, die häufig auftretenden Magenkrämpfe auszuhalten, sie wegzudrücken, bis er sie hatte als Durchfall ausscheiden können. Die Magenkrämpfe und der Durchfall hatten so selbstverständlich zu seinem Leben gehört wie die Kirche, die Askese und die Kasteiungen, und es war ihm nie in den Sinn gekommen, in ihnen Symptome einer wie auch immer gearteten Krankheit zu sehen. Sie waren Äußerungen seines Körpers wie Hunger, Schlafbedürfnis, Durst, Wollust, der Drang, die Blase zu entleeren, die es durch den Geist zu überwinden galt. Deshalb war es beinahe unerträglich für ihn gewesen, dass er während einer Messe vor brennenden Schmerzen in seinem Bauch zusammengebrochen war und er nicht mehr, wie noch die Wochen zuvor, vermocht hatte, die rasenden, sich ausweitenden Feuerkreise einzudämmen. Er musste in ein Krankenhaus eingeliefert werden, um sich helfen zu lassen, so sehr ihm das auch zuwider gewesen war.
Aber dort im Hospital hatte er die Krankheit mit ihrem vorläufigen Endpunkt Ulcus ventriculi doch als eine notwendige Phase in den Prozess seiner Reifung einordnen können.
Das Magengeschwür war durch die Selbstverdauung der Magenwand entstanden. Es hatte nicht viel zur Perforation gefehlt, und die Gefahr, dass der Ulcus in die Bauchhöhle durchbrach, war noch nicht gebannt gewesen, so dass für Hannes absolute Bettruhe verordnet wurde.
Dort in diesem Krankenbett hatte er endlich die Innerlichkeit und die Selbstverleugnung leben können, die nötig gewesen war, um Gottes Willen zu erkennen. Er hatte seine Chance in der demütigenden Kapitulation vor dem Körper entdeckt und seinen Leib ganz in die Hände des Pflegepersonals gegeben. Da sie alles für ihn besorgten, hatte er ganz in der Innerlichkeit aufgehen können. Er war seinem asketischen Ideal so nah gekommen wie nie zuvor, auch wenn er hier auf die Kasteiungen verzichten musste.
Die Schwestern mussten alle Reserven mobilisieren, um den Stinkenden Mönch, wie sie Hannes bald nannten, nicht im eigenen Dreck liegen zu lassen. An Fäkalien waren sie gewöhnt, aber jemand, der betend und Bibel lesend mit voller Absicht seine Ausscheidungen einfach nicht beachtete, nicht kontrollierte, machte ihnen die Arbeit unerträglich: er demütigte sie. Nur zu gerne hätte manche den Stinkenden Mönch in seinem Bett verkommen und verfaulen lassen, wie beispielsweise Schwester Renate unter Tränen ihrer Oberschwester beichtete:
„Der stinkt aus allen Löchern, kümmert sich um nichts. Mir ist es unerträglich, in seine Nähe zu kommen, und sein Mundgeruch lässt mich fast kotzen, wenn mir irgendein Psalm entgegenstinkt. Und wenn ich ihm das Bett sauber machen muss, das zweite Mal innerhalb einer Stunde, dann kommen mir Gedanken hoch wie: Verfaule doch im eigenen Dreck! Ich habe Wichtigeres zu tun, als einem degenerierten Pfaffen den Arsch sauberzuwischen…“
Aber im Wohlgefühl sich steigernder Gottesnähe und in dem tiefen Glauben, dass seine Existenz nun ihrer sinnhaften Erfüllung zustrebe, ignorierte Hannes weiterhin seinen Körper. Und die Krankenschwestern demütigten sich weiterhin, um dem ihnen anvertrauten Menschen zu helfen. Dort, wo die Schwestern die Frucht faulen sahen, fühlte Hannes den Baum erst im Wachstum begriffen, an dem sich die Frucht ausbilden würde: die Frucht seines Lebens, die köstlich sein würde, gleichzeitig bitter und süß: Oh, Gott würde ihm den Weg weisen, den er, Hannes, gehen muss, um die Menschen und die verdammte Zeit heim in sein himmlisches Reich zu bringen.
Niemand ahnte, wie der Stinkende Mönch sich selbst sah und was noch alles außer Geschwüren in ihm wuchs. Und dann kam Hannes an die Stelle, wo das geschah, worauf er so lange gewartet hatte.
Ende der Leseprobe aus dem Roman „Engel spucken nicht in Büsche: Roman über Liebe, Tod und Teufel“, des ersten Teils des für die Figur des Mörders zentralen Kapitels „Der Schrei“.
Der zweite Teil folgt bald…
Zum Roman:
Engel spucken nicht in Büsche: Roman über Liebe, Tod und Teufel
Der Tod ist in die Stadt gekommen, und er ist auf einer Mission. „Abtreibungskiller“ nennt ihn schon bald die Presse. Der Polizei gelingt es nicht, den heimtückischen Frauenmörder zu stoppen. Gelingt dies Hartmut, dem Krankenpfleger mit einer ausgeprägten Vorliebe für Prostituierte? Der Tod ist in die Stadt gekommen, und düstere Visionen quälen den aufstrebenden Künstler Krish. “Kann es sein, dass ich nicht nur male, was war, sondern auch, was sein wird?” Wo ist seine große Liebe Helen? Ist ihr etwas zugestoßen? Nein. Ja. Aber sie lebt. Noch. Denn nun ist der Mörder auf dem Weg zu ihr.
“Engel spucken nicht in Büsche” – eine packende Geschichte. Lebendige Figuren, die Sie nicht vergessen werden. Starke Frauen. Ein teuflischer Mörder. Männer zwischen Sehnsucht und Furcht, getrieben. Ein Krimi. Ein Roman über den Verlust der Unschuld. Erotisch. Hart. Zärtlich. Schonungslos. Ein spannendes Buch über Hoffnung und Schmerz, über Liebe, Leid und Lust.