Der Richter beschnittene Vernunft

Ich bin Atheist. Ich möchte nicht, dass man mir Religion aufdrängt. Aufgezwungene Religionsakte empfinde ich als Beleidigung an meiner Persönlichkeit. Religion darf keinen persönlichen, keinen körperlichen Schaden verursachen. Dennoch spreche ich mich dafür aus, die Beschneidung junger Männer aus religiösen Gründen nicht als Straftatbestand anzusehen. Wer dies im juristischen Eifer tut, wer dergestalt religiöse Akte unterbinden möchte, vielleicht auch, um die Religiosität als Lebensinhalt zu brechen, der züchtet sich keine profanisierten Bürger heran, sondern kriminalisiert Menschen, die sich unverstanden und in die Ecke gedrängt, sich ihren Gewohnheitsrechten beraubt fühlen. Sollte man meinen, mit der Entscheidung des Kölner Landgerichts würde man nun Muslime (und indirekt Juden) zu einer weltlicheren Sichtweise drängen, sie aus der muslimischen Gewohnheit und Tradition reißen, so dürfte eher das Gegenteil der Fall sein. So integriert man nicht, so exkludiert man. Nebenbei werden im Sinne ihrer Erziehung, Sozialisation und ihres Brauchtums unschuldige Eltern kriminalisiert.

Die Gründe, die zu einem Verbot der Beschneidung von Jungen führten, kann ich ja sogar nachvollziehen. Ohne Einwilligung den Körper eines Menschen anzutasten, ihn zurechtzustutzen und Teile, sei es selbst nur ein Häutchen, zu amputieren, ist vom rationalen Standpunkt aus nicht nur grenzwertig, sondern ein radikaler Eingriff in die körperliche Autonomie eines Menschen und daher tatsächlich zu hinterfragen.
Doch auch die religiöse Seite verstehe ich, so gut ich sie als Atheist überhaupt verstehen kann. Ich bin kein Maßstab für die Empfindungen, die ein gläubiger Mensch gleich welcher Frömmigkeit, für die Pflege seiner Kultur hegt. Ich kann mir nicht anmaßen, zu denken, weil ich so gottesleer, so religionsöde bin, könnten das andere auch erlernen, wenn sie sich nur nicht so anstellten. Die Haltung des Atheismus, wonach ebendieser eine fortschrittlichere Haltung sei als das Religiöse, ist nicht nur falsch, es ist schrecklich arrogant und entspricht dem entgöttlichten Selbstanspruch nicht. Homo homini deus - der Mensch sei des Menschen Gott, um frei nach Feuerbach zu sprechen. Das heißt für mich, dass der Mensch dem Menschen mit Respekt und Verständnis entgegentreten muß - egal, welcher Weltanschauung er anhängt; solange jedenfalls, wenn es sich um eine Anschauung handelt, die ethischen Kategorien entspricht und niemanden zu Schaden bringen will - auch wenn ich natürlich weiß, dass Religion immer auch zu Schaden geführt hat. Aber das hat der Atheismus letztlich auch und wird er in Zukunft weiterhin tun, wenn er diese Arroganz nicht ablegt gegenüber religiösen Menschen. Doch darum soll es an dieser Stelle nur peripher gehen; aus jener Überheblichkeit gegenüber religiösen Ansichten resultiert jedoch vermutlich das Urteil der Richter zu Köln - daher sei auf sie verwiesen. Ich will nicht hoffen, dass das Urteil der allgemeinen Islamophobie entsprungen ist, kann mich jedoch des Eindruckes nicht erwehren, dass dem so ist - als der Zentralrat der Juden in Deutschland eingriff, das jüdische Leben in Deutschland für beendet erklärte, da schwante den Richtern wahrscheinlich erstmals, was sie da verabschiedet hatten. Stimmt ja, Juden beschneiden ja auch...
Was weiß ich denn darüber, welche Seelenqualen jemand erleiden mag, der muslimisch oder jüdisch religiös ist und seinen männlichen Nachwuchs nicht beschneiden lassen darf? Das arbeitet in muslimischen oder jüdischen Eltern vielleicht so sehr, dass sie daran wirklich leiden müssen, dass sie zerbrechen. Selbstgefällig könnte man sagen, Stell dich nicht so an! Ist ja nur ein Stückchen Haut! - aber ich weiß doch nichts darüber, wie diese Menschen ihre Welt wahrnehmen, welche Gefühle sie haben, beim Betrachten einer Sache, die bei mir wiederum ganz andere Gefühle wachrütteln mag. Ich bin nicht der Zollstock für die Empfindungen anderer.
Es ist ja auch nicht so, dass die Beschneidung ein so grober, so archaisch brutaler Eingriff in die körperlichen Rechte eines Kindes ist, dass man wirklich von Verstümmelung sprechen müsste. Beschnitten werden Säuglinge und Kinder in allen Kulturen mehr oder weniger. Das britische Königshaus trägt seit der viktorianischen Epoche keine Vorhaut mehr - die englische Oberschicht tat es ihm gleich. Und hätten jene Juden, die sich damals als messianische Sekte vom Judentum abgrenzen wollten, jene, die sich Christen nannten, vermehrt an Vorhautverengung gelitten, so hätten sie die Beschneidung als Unterscheidungsmerkmal zum Judentum, das sie in seiner damaligen Form überwinden wollten, niemals getilgt - sie wären beschnitten geblieben und wir, das christliche Abendland und die Kölner Richter, wären es vielleicht heute noch. Die Tragik des Gerichtsurteils, so könnte man polemisch sagen, ist es, dass die Phimose kein Massenphänomen jener neutestamentarischen Zeiten war - vielleicht hätten sich die jungen Christen zur Unterscheidung, als Initiationsritual quasi, dann dazu entschlossen, als Zeichen ihrer Abkehr vom Judentum, etwas anderes zu tun, wenn sie auf die Beschneidung schon nicht verzichten können. Vielleicht hätte das Kölner Landgericht dann heute darüber befinden müssen, ob man es verantworten könne, männliche Säuglinge nur deshalb nicht beschneiden zu lassen, weil der egoistische Selbstverwirklichungstrieb mancher Eltern sich dagegen versperre.
Nein, der Eingriff ist, wenn man es sich als Mann so vorstellt, natürlich schon dergestalt, dass man sich unbewusst in den Schritt fasst, instinktiv sein Glied schützen möchte - aber mit etwas Vernunft betrachtet, ist er doch relativ harmlos und unter hygienischer Ausführung so gut wie folgenlos. Wenn sich Eltern dazu entschließen, ihrem Jungen aufgrund einer Phimose beschneiden zu lassen, mag das ein medizinischer Anlass sein. Aber hätte nach Lesart des Kölner Landgerichts nicht die absolute Autonomie über den Körper zu entscheiden? Wäre die Beschneidung statthafter, wenn des Jungen Eichel nicht freiliegen kann, weil die Vorhaut nicht oder nur unter Schmerzen zurückgezogen werden kann? Oder reichte nicht auch die konservative Methode, zu salben und zu dehnen also? Entschieden sich Eltern für die operative Variante, weil sie sicherer und weniger zeitaufwändig wäre, würden sie sich nicht im Sinne des Kölner Landgerichts schuldig machen? Wahrscheinlich würden es da eine Ausnahmesituation einräumen, weil man aus Gründen einer medizinischen Maßnahme "verstümmelte". Ist es aber nicht auch eine Form medizinischen Aktes, wenn man prophylaktisch beschneidet, wie es Moslems und Juden ja eigentlich tun? Hygienischer soll es ja sein; man soll sich so einige Infektionen sparen, die man als männlicher Mensch so kriegen kann.
Manche Verteidiger der Beschneidung loben diesen Eingriff auch, weil er so rücksichtsvoll gegenüber den späteren weiblichen Sexualpartnerinnen dieser beschnittenen Jungs sein soll. Denn beschnittene Geschlechtspartner, so will es die Legende, minimieren den Gebärmutterhalskrebs - dabei bezieht man sich auf eine Studie aus den Fünfzigerjahren, bei der man glaubte festgestellt zu haben, dass Frauen von jüdischen Männern seltener an dieser Form des Krebses erkrankten. Spätere Studien konnten diese Ergebnisse nicht bestätigen und kassierten sie wieder. Doch das Gerücht hält sich wacker. Ich finde jedoch, man kann Pro und Contra nicht an Nutzerscheinungen festmachen, so argumentieren nur Kaufleute - ein Dafürhalten bei einem solchen Eingriff kann nicht damit erklärt werden, denn mit derselben Logik könnte man Kastrationen rechtfertigen, wenn sich dadurch Erbkrankheiten vereiteln lassen würden. Die Beschneidung als funktionellen Akt herauszuputzen, ist letztlich die Kehrseite jener Medaille, die einst andere Eingriffe am Individuum erlaubte, weil sie angeblich dem allgemeinen Volkswohl dienten.
Manchmal gibt es Situationen, in denen man beide Seiten verstehen kann. Kritikern und Befürwortern verständig gegenübersteht. Und dann kann man sich als Neutraler zurückziehen und so tun, als ginge es einen nichts an. Wenn aber eine Entscheidung her muß, dann wägt man ab. Ich tue des insofern, dass ich die Beschneidung von männlichen Säuglingen und Kindern nicht kriminalisieren würde, auch wenn sie einen ungefragten Eingriff in die körperlichen Rechte des Kindes darstellen. Die Gründe sind hierbei ganz gesellschaftspragmatisch. Um den religiösen und gesellschaftlichen Frieden zu wahren, um kulturelle Vielfalt zu erhalten, um die betroffenen Familien vor Kriminalisierung und Stigmatisierung und inneren Dilemmas zu schützen. Es ist weniger Leid für einen beschnittenen Jungen, als es Leid für die religiöse Kultur und für die Elternwelt innerhalb dieser Kulturalität wäre. Wenn man überhaupt von Leid sprechen kann, denn wer nie mit Vorhaut lebte, wird vermutlich nichts vermissen. Die Vorhaut ist kein elementarer Bestandteil männlichen menschlichen Lebens - das Trauma, das Gegner der Beschneidung, den Jungen nun lebenslang anhängen wollen, dürfte kaum der Wirklichkeit entsprechen; wahrscheinlich ein pseudo-freudianischer Affekt, der in der erlebten Entfernung der Vorhaut irgendwas wie ein Auslösen sexuell unbewusster Verlustängste hineininterpretiert; der dekapitierte Phallus als Symbol für ein gebrochenes Männerleben...
Das Urteil des Kölner Landgerichts mag juristisch nachvollziehbar sein - unter gesellschaftlichen Aspekten, unter Gesichtspunkten des Zusammenlebens, der Pflege von Brauchtum und Kultur, ist es das sicherlich nicht. Die Richter litten möglicherweise selbst an einer Beschneidung - der ihrer Vernunft nämlich...
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