Am 7. November wäre Albert Camus 100 Jahre alt geworden. Der Laika-Verlag veröffentlicht jetzt erstmals die »Libertären Schriften (1948 – 1960)« in deutscher Sprache.
Eine Besprechung von Kerstin Völling
Bei Albert Camus ist immer alles so schön einfach. »Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem«, versichert er in »Der Mythos von Sisyphos«. Dieses Problem sei der Selbstmord. »Die Entscheidung, ob sich das Leben lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie.»Ähnlich pointiert beginnt der Existenzialist seinen Roman »Der Fremde«: »Aujourd’hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas. J’ai reçu un télégramme de l’asile : ‹ Mère décédée. Enterrement demain. Sentiments distingués.« Cela ne veut rien dire. C’était peut-être hier. « (Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht. Ich habe ein Telegramm vom Heim bekommen: ‹ Mutter verstorben. Beisetzung morgen. Hochachtungsvoll.‹ Das will nichts heißen. Es war vielleicht gestern.)
Während andere Schriftsteller erst einmal eine erzählerische Dichte schaffen, schockt Camus gleich mit der Quintessenz: Das Leben ist absurd! Und deshalb, liebe Leser, straft Protagonist Meursault die ganze Welt mit eiskalter Gleichgültigkeit.
Klare Kante. Typisch Camus. Doch wer mehr von ihm gelesen hat, weiß, dass seine Konzentration auf das Wesentliche lediglich ein Stilmittel darstellte und keine – ihm oft vorgeworfene – Pfuscherei in der Analyse. Der Nobelpreisträger hat es sich nie einfach gemacht. Im Gegenteil: Camus war einer der wenigen engagierten Menschen auf dieser Welt, die immer und immer wieder differenzierten. So auch in der Politik.
Reichlich Anschauungsmaterial dazu liefern die »Libertären Schriften (1948-1960)« . Der Laika-Verlag hat sie jetzt erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht. Herausgeber und Übersetzer Lou Marin leitet die knapp 400 Seiten starke Aufsatzsammlung ein und kommentiert sie. Fünf Buchkapitel umfassen sowohl Artikel von Camus als auch solche über ihn. Sie erschienen in Zeitschriften und Zeitungen mit weitgehend anarchistischem Hintergrund.
Die Auswahl der Schriftstücke bildet eine sehr ansprechende Dokumentation über Camus’ politische Prinzipien. Sie waren tiefgreifend von Kriegseindrücken geprägt und bestimmten die ganz persönliche Revolte des Autors. Und diese Prinzipien – da kann man André Prunier, der in den »Libertären Schriften« Camus mit André Breton vergleicht, nur beipflichten – durchlebten zwar eine Entwicklung, blieben aber im Kern stets die gleichen: Widerstand gegen Gewaltherrschaft ja, Gewaltexzesse nein. Auch revolutionäre Gewalt ist zu begrenzen ( »Der Mensch in der Revolte«). Wo Frieden möglich ist, muss er geschlossen werden. Minderheiten sind zu schützen.
Tyrannei, Totalitarismus und Todesstrafe sind abzulehnen. Jeder muss das Recht auf Kriegsdienstverweigerung haben. Und politisches Handeln soll sich auf menschliche Individuen samt ihrer Bedürfnisse, Leidenschaften und Freiheiten fokussieren – nicht primär auf die Volksgemeinschaft. Föderalismus geht dabei dem Zentralismus vor, genauso wie der Syndikalismus den Dogmen der kommunistischen Ideologie.
Albert Camus
Camus forderte das alles nicht nur, er handelte danach. Er trat einer Widerstandsgruppe bei, verfasste illegale Schriften wie den »Brief an einen deutschen Freund«, verließ die Zeitung »Combat«, als sie die politische Richtung wechselte, trat aus der UNESCO aus, weil sie Franco-Spanien aufnahm, erklärte seine Solidarität mit den aufständischen Arbeitern des 17. Juni 1953 und drei Jahre später auch mit den Aufständischen in Ungarn, reiste nach Algerien, um zum Burgfrieden aufzurufen, trat dem Hilfskomitee für Kriegsdienstverweigerer bei (in Frankreich war Kriegsdienstverweigerung bis 1963 generell strafbar) und beschwerte sich zusammen mit drei weiteren Autoren schriftlich bei Charles de Gaulle. Auch all das dokumentieren die »Libertären Schriften«.Dass er mit seinen Prinzipien bei kommunistischen Genossen heftig aneckte, ist nicht verwunderlich. Es kam zum Bruch, nach dem »Mensch in der Revolte« auch mit Jean-Paul Sartre. Beeindruckend führen die »Libertären Schriften« die Härte der Auseinandersetzung zwischen Gaston Leval und Camus vor Augen. Camus hatte in »Der Mensch in der Revolte« unter anderem in Michail Bakunin einen Verbündeten in der Kommunismuskritik gesehen, der sich dem autoritären Sozialismus zwar widersetzte, allerdings mit nihilistischer Ausrichtung und einer gewissen Zerstörungslust. Leval kritisiert diese Interpretation gleich in einer vierteiligen, wissenschaftlichen Abhandlung. In der wirft er Camus sogar vor, Bakunins Schriften gar nicht zu kennen. Camus kontert im Juni 1952: »Die bürgerliche Moral stößt uns durch ihre Heuchelei und ihre mittelmäßige Rohheit ab. Der politische Zynismus, der einen großen Teil der revolutionären Bewegung dominiert, widert uns an. Und was die so genannte unabhängige Linke anbetrifft, so ist sie in Wirklichkeit von der Macht des Kommunismus fasziniert und klebt an einem Marxismus, der sich vor sich selber schämt: Sie hat bereits abgedankt.«
Die »Vergöttlichung von Marx«, wie er sie nennt, verurteilt Camus: »Wir müssen… in uns selbst, im Zentrum unserer Erfahrung, das heißt im Inneren des Denkens der Revolte die Werte finden, die wir brauchen.«
Spätestens hier entwickeln die »Libertären Schriften« einen Suchtfaktor. Denn vor allem in Korrespondenzen läuft Camus zur Höchstform auf. Stellungnahmen von Schriftstellern wie Simone Weil oder Jean-Paul Samson ermöglichen zudem sehr unterschiedliche Blickwinkel auf das Schaffen des Autors.
Äußerst angenehm auch, wie Marin die Aufsätze akribisch mit Fußnoten versieht. Der Leser fühlt sich nie allein gelassen, wenn er nach detaillierten Hintergrundinformationen sucht. Darüber hinaus liefert der Herausgeber mit seiner rund 70 Seiten langen Einleitung gut Strukturiertes, unbedingt Wissenswertes, das das Gesamtwerk Camus’ auch für Nicht-Kenner zugänglich macht. Da wird dem Leser dann gleichgültig, dass der charakteristischste Satz des »positiven, politischen Camus« nicht erstmals in den »Libertären Schriften«, sondern schon als Unterschrift zum »Brief an einen deutschen Freund« erschien: »Seine Größe zeigt man nicht, indem man sich zu einem Extrem bekennt, sondern in dem man beide in sich vereinigt.« In Camus’ Welt gab es keine wahre Freiheit ohne Sozialismus. Es gab aber auch keinen wahren Sozialismus ohne Freiheit.
Kerstin Völling
Albert Camus: Libertäre Schriften (1948-1960), Laika-Verlag 2013, ISBN 3942281562, 24,90 Euro[Übernahme von Die Freiheitsliebe]