Der Photoroman “La Jetée” von Chris Marker

Erstellt am 1. November 2012 von Denis Sasse @filmtogo

1962 gilt als der Zeitpunkt, an dem der Franzose Chris Marker mit seinem Kurzfilm – oder viel mehr Photoroman, besteht sein etwa 26 Minuten langes Werk doch hauptsächlich aus stillstehenden Bildern – „La Jetée“ einen Grundstein für den Science Fiction Film legte. In Deutschland unter dem Titel „Am Ende des Rollfelds“, in englischsprachigen Ländern als „The Pier“ oder „The Jetty“ erschienen, nimmt der Titel Bezug auf einen Anlegesteg an einem Flughafenterminal, hier explizit am Flughafen Paris-Orly vorzufinden, wo Markers Film seinen Anfang, aber auch sein Ende situiert. Mit „La Jetée“ wurde der Grundstein für viele Zeitreise-Erzählungen gelegt, für den 1995er Brad Pitt/Bruce Willis-Film „12 Monkeys“ diente er Regisseur Terry Gilliam als Vorlage für sein Drehbuch, ebenso war er eine Inspiration für David Bowies Musikvideo zu dem 1993er Song „Jump They Say“.

Ebenso wie „La Jetée“ ein Vorbild für viele filmische Werke war, darunter natürlich auch andere Zeitreise-Abenteuer wie „Zurück in die Zukunf“ oder Rian Johnsons „Looper“, ist der Photoroman, wie wir diese Form des filmischen Erzählens fortan nennen wollen, selbst ebenfalls nach einem Vorbild entstanden. So bekannte sich Marker zu Lebenszeiten als Fan des Alfred Hitchcock Klassikers „Vertigo – Aus dem Reich der Toten“ von 1958, in dem James Stewart neben Kim Novak einen Mann spielt, der den Selbstmord einer Frau nicht verhindern kann. In einer wahrlich schwindelerregend gefilmten Sequenz auf einem Glockenturm stürzt sich die von Novak gespielte Protagonistin in den Tod, hinterlässt einen von Höhenangst und Schwindelgefühl geplagten Mann, der aufgrund seiner Ängste nicht in der Lage war, seine große Liebe vor dieser Untat zu erretten. Es folgen Depressionen und Nervenklinik. Natürlich ist hier mehr Schein als Sein, das geschickte Spiel eines Regisseurs, der mit dem nicht Erwarteten jongliert. Und so wird „Vertigo“, die Geschichte über die verzweifelte Suche nach einer Person aus der Vergangenheit zum Vorbild zu „La Jetée“, die Schilderung des Lebens eines Zeitreisenden, der realisiert, dass seine Kindheitserinnerung seiner eigenen Zukunft gleicht.

Zugleich zeigt Chris Marker eine apokalyptische Zukunft, erschafft Bilder, die 1962 nicht filmische Alltäglichkeit wiederspiegelten, obgleich es schon fast urzeitlich wirkte, wie er mit Fotografien, mit unbewegten Bildern seiner Geschichte dennoch Leben einhauchte. Somit nutzte er nicht nur die erzählte Handlung als Zeitreise, sondern begab sich auch als Filmemacher zurück in die Vergangenheit um etwas Fiktives über die Zukunft zu erzählen. „La Jetée“ erzählt von diesem Mann, dargestellt von Davos Hanich, der von Erinnerungen aus seiner Kindheit geplagt und verfolgt wird. „This is the story of a man, marked by an image of his childhood“, so heißt es, wenn Marker uns in die Handlung am Flughafen von Paris-Orly begrüßt. Dort brennt sich das Gesicht einer jungen Frau in sein Gedächtnis ein, aber auch der Tod eines Mannes. Das alles „sometime before the outbreak of world war three“. Dann wird Paris zerstört, Marker zeigt seine endzeitlichen Weltkriegsbilder, auf denen in der Oberwelt alles radioaktiv verseucht und unbewohnt ist. Die Menschheit hat sich in den Untergrund gezogen, dort lebt man unter der Erde, zusammen gepfercht, mit wenig Hoffnung auf Rettung. Die Menschen sind am Ende. Die Erde ist zerstört. Das Weltall ist außerhalb ihrer Reichweite. Somit bleibt nur die Reise durch die Zeit, eine Reise die als Ausweg gesehen wird, eine Reise in die Vergangenheit und in die Zukunft, um sich von dort Rettung zu holen: „calling past and future to the rescue of the present“.

Die Experimente dieser Zeitreisen sind nicht ungefährlich, zwingen mental schwache Menschen in die Knie, aber die Perspektive auf Medikamente, auf Nahrung und Energiequellen lassen die Verantwortlichen nicht stoppen, sie machen weiter, sie wollen die Menschen in der Gegenwart erretten, zumindest sich selbst, ganz gleich wie viele Menschen hierfür geopfert werden müssen. Die Versuchspersonen erleiden mentale Schocks, werden hierdurch in den Wahnsinn getrieben, die Glücklichen ereilt der sofortige Tod, die Erlösung aus dieser schrecklichen Welt. Nur Menschen mit starken mentalen Bildern, Menschen mit in das Gedächtnis eingebrannten Traumbildern und Erinnerungen sind in der Lage, die anstrengenden Zeitreise-Experimente über sich ergehen zu lassen. Somit kommt Markers Hauptprotagonist von zuvor diese Funktion zu, er wird in die Vergangenheit geschickt, wo er der Frau (Hélène Chatelain) aus seinen Erinnerungen begegnet, sich in sie verliebt und mit ihr eine schöne Zeit verbringt, bis er wieder in die Gegenwart zurückgeholt wird, um nun in eine weit entfernte Zukunft zu reisen. Dort trifft er auf hoch entwickelte Menschen, die ihm eine Energiequelle geben, die zum Aufbau der eigenen Gesellschaft ausreichen soll. Zurück in seiner eigenen Zeit soll er nun nach erledigter Mission von den Männern, Wissenschaftlern, getötet werden, die ihn stets durch die Zeit schickten. Aus der Zukunft nimmt man Kontakt mit ihm auf, bietet ihm einen permanenten Platz in dieser Zukunft an, den er jedoch ablehnt, im Gegenzug den Wunsch äußert, zurück zu reisen, dorthin wo seine große Liebe lebt, in der Vergangenheit, aus der das sich bei ihm eingebrannte Erinnerungsbild stammt.

Er wird nun also in die Vergangenheit zurück geschickt, findet die geliebte Frau am Flughafen Paris-Orly, bemerkt aber nicht den Agenten aus der Gegenwart, geschickt von den Zeitreise-Wissenschaftlern, der nun dem Mann auflauert und ihn ermordet. Das Szenario wird von einem kleinen Jungen beobachtet, der dort steht, es mit ansieht – der Junge ist der Mann, der zeitliche Kreislauf geschlossen.

Zwar wurde bereits in der 1960er Verfilmung von H. G. Wells „Die Zeitmaschine“ mit dem Hin- und Her in der Zeit gespielt, aber mit „La Jetée“ legte Chris Marker den Fokus nicht etwa auf die wissenschaftliche Neugierde, den Forscher- und Entdeckerdrang der Menschheit, sondern folgte einer poetischen Reise durch die Zeit, schürte das emotionale Verlangen und die Sehnsucht, verlorene Zeit wieder zu erlangen, sich selbst zu begegnen, sich selbst kennen zu lernen – ein Identitätsthriller à la „Memento“, „Inception“ oder auch „Total Recall“, zumindest die Version von Paul Verhoeven von 1990 mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle.

Ein Foto ist eine Erinnerung, die Erinnerung spielt eine große Rolle in „La Jetée“, sie ist das ausgehende Ereignis, daher ist es Chris Markers einfallsreiche Idee, den Film durch Fotos zu erzählen, die diesen 1962er Sci-Fi Film so besonders machen. Standbilder, einer DIA-Vorführung gleich, in schwarz/weiß gehalten, mit Jean Negronis Erzählstimme aus dem Off, nur die Zeitreise-Wissenschaftler dürfen auf Deutsch leise im Hintergrund murmeln. Dennoch sind diese stillstehenden Bilder in der Lage ein filmisches Gefühl zu erzeugen, lassen die Bewegungen im Kopf des Betrachters entstehen, hier sind keine 24 Bilder pro Sekunde nötig, hier wird die mechanische Arbeit des Projektors in das menschliche Gehirn verlagert, Chris Marker gelingt dieser Schritt mit Bravour. So wie die Wissenschaftler eine Ausnahme auf der Tonebene darstellen, Sprechen dürfen, wo nur eine Stimme aus dem Off, außerhalb der filmischen Welt existiert, ist es eine kurze Szene im Film, die den Photoroman durchbricht, die bewegte Bilder zeigt. Die vom Zeitreisenden geliebte Frau öffnet beim Aufwachen ihre Augen, sie sieht, sie durchbricht das beweglose Bild, entfacht ein merkwürdig opulentes Bild in unserem Inneren.

Chris Marker hieß eigentlich Christian Francois Bouche-Villeneuve, entwickelte einen Künstlernamen für sich selbst, in den 40er Jahren, in denen er als Kritiker, Poetiker und Fiktionsautor schrieb – und weil er gerne umher reiste, einen Namen haben wollte, der weltweit einfach auszusprechen war. „La Jetée“ ist nicht nur seine Regiearbeit, auch das Drehbuch stammt von ihm, auch die Bilder schoss er selbst. Sein Film feiert in diesem Jahr sein 50. Jubiläum, 1962 erschienen, hat Marker diesen Meilenstein selbst noch miterlebt. Er starb in diesem Jahr, an seinem Geburtstag, dem 29. Juli und schloss damit ebenfalls einen zeitlichen Kreislauf ab. Er wurde 90 Jahre alt.