Der Friedensprozess im Nahen Osten kommt nicht voran. Trotzdem glaubt Salam Fajad an einen Ausweg. Der palästinensische Premier baut seinen Staat um ein Versprechen herum
Es ist Samstagmorgen, ein paar Minuten nach zehn, als Salam Fajad eine verregnete Bühne in Bethlehem betritt, die Hand aus der Hosentasche nimmt und Partei für den Feind ergreift. Unter den Augen von Arafat, dem überlebensgroßen Palästinenser-Führer, der von einem Banner neben der Bühne lächelt, ruft Fajad den Menschen zu, nicht die Israelis für die Taten von ein paar fanatischen Siedlern zu verurteilen, die wieder palästinensische Olivenbäume abgefackelt haben.
Olivenbäume, darum geht es vor allem auf dem Olivenfest, das der palästinensische Premier besucht. Das Publikum klatscht verhalten. Vermutlich hat es etwas anderes erwartet: Parolen, Kampfansagen, Kraftmeierei.
Das waren sie von ihrem Präsidenten Arafat gewohnt, und so lieben sie es immer noch. Doch ihr neuer Premier wiegelt nicht auf, sondern spricht kühle, pragmatische Sätze mit sonorer Stimme.
Salam Fajad ist der große Unbekannte im ewigen Geschacher um einen palästinensischen Staat – und gleichzeitig der größte Liebling des Westens. Manche Kommentatoren nennen ihn „Palästinas große Hoffnung“. Israels Präsident Schimon Peres vergleicht ihn gar mit David Ben Gurion, dem israelischen Staatsgründer. Obwohl er nicht viele Anhänger in den zwei politischen Lagern seines Landes hat, ist er verantwortlich für fast jeden Aspekt der palästinensischen Regierung, zumindest im Westjordanland.
Bislang hat man der Palästinensischen Autonomiebehörde nicht besonders viel zugetraut, um aus der Sackgasse, in die der Friedensprozess im Nahen Osten geraten ist, herauszukommen. Doch der Premier ist auf eine Straße abgebogen, die ohne Umwege zum Ziel führen soll. Schon nächsten Sommer will Fajad einen selbstständigen Staat geschaffen haben, ohne Verhandlungen, ohne Revolution oder Gewalt. Wie er das so schnell erreichen will? Wer ist dieser Mann, der Palästina schon als baldiges 193. Mitglied der UN-Familie sieht?
Mehr Regierung gleich mehr Sicherheit gleich bessere Wirtschaft gleich eigener Staat – so ungefähr stellt Fajad sich das vor. Eine kühle Kalkulation. Diesmal nicht eingerechnet: bewaffneter Widerstand, der über Jahrzehnte zu keinerlei Verbesserung der Lage geführt hat. So will er, wie er sagt, den „Staat aus dem Bereich des Abstrakten in den Bereich des Möglichen holen. Und dann hoffentlich in den Bereich des Unvermeidbaren.“ Sein Regierungsprogramm 2009 stand unter dem Motto: „Die Besatzung beenden, den Staat etablieren.“
Auf der Bühne in Bethlehem erhält der Premier die obligatorische Kiste mit Olivenölflaschen, dann tritt er hinunter auf den Platz und geht zu den Marktständen. Stets ist er unterwegs. Mit den Menschen reden, sich ihre Bedürfnisse anhören, will er, ein Dauerwahlkampf für einen, der ungewählt regiert, weil er berufen worden ist.
Gelegentlich greift er dabei auch auf erprobte Mittel zurück. Dann zieht er sich draußen bei der Olivenernte eine Kufiya auf, das schwarzweiße Kopftuch, auf ewig mit Arafat verbunden. „Aber das ist nicht sein Ding“, sagt Abdallah Frangi, ehemaliger Generaldelegierter in Deutschland, und muss lachen. „Er kann das Tuch noch nicht mal richtig binden.“
In seinem Büro in Ramallah, einem fensterlosen, auf komfortable Temperaturen heruntergekühlten Raum, empfängt Fajad einige Tage später zum Gespräch. Obwohl er erkältet ist, zündet er sich eine rote Winston an. Auf dem Tisch steht ein Aschenbecher, so groß wie eine Mopedfelge. Und es fällt der Satz: „Ich glaube an die Macht des gewaltlosen Widerstands.“
Salam Fajad, 58, verheiratet, drei Kinder, wurde in einem Dorf bei Nablus geboren. An der Universität von Texas promovierte er in Wirtschaftswissenschaften, arbeitete danach bei der Weltbank und war von 1995 bis 2002 der palästinensische Repräsentant des Internationalen Währungsfonds. Dann machte ihn Jassir Arafat zum Finanzminister, als solcher erarbeitete er sich den Ruf, ein integrer Macher zu sein. Weggefährten beschreiben ihn als bescheiden, zielorientiert, unkorrumpierbar. Guido Westerwelle sagt, dass man einen wie Fajad nicht so schnell wiederbekomme, einen, der nach klugen Lösungen sucht und Gewalt verabscheut.
Sein Weg in dieses Zimmer und das Amt war allerdings chaotisch. Nachdem die Hamas 2006 die nationalen Wahlen gewonnen hatte und die Fatah-Partei im Jahr darauf blutig aus dem Gazastreifen jagte, ernannte Präsident Abbas auf Drängen der USA eine Notfallregierung und machte Fajad zu ihrem Premier. Dabei hatte dessen eigene kleine Partei „Der Dritte Weg“ bei den Wahlen nur 2,4 Prozent der Stimmen erhalten.
Fajad enttäuschte die Geldgeber aus dem Westen nicht, die in der Autonomiebehörde einen Puffer gegen eine mögliche Machtübernahme der Hamas im Westjordanland sehen; alleine die EU hat 349 Millionen Dollar für 2010 überwiesen. In seinen ersten drei Monaten als Premier startete die Behörde eine Kampagne gegen alle, die mit der Hamas in Verbindung standen. 1500 Mitglieder und Sympathisanten wurden festgenommen, oft in Koordination mit der israelischen Armee. Seinen Bürgern hat Fajad das als Programm für Recht und Ordnung präsentiert. Dem Westen signalisiert er so, dass die Investitionen weiter fließen können. Und Israel zeigt er, dass er die Kontrolle hat, dass sich die Armee aus weiteren Gebieten zurückziehen kann.
Nur, was die Palästinenser davon halten, ist eine ganz andere Frage.
„Kein Staat wird in einem Vakuum entstehen“, sagt Fajad. „Er muss auf dem Boden von starken Institutionen und Diensten für das Volk errichtet werden.“ Fajads Regierung hat mehr als 1000 Entwicklungsprojekte angeschoben, pflastert Straßen, pflanzt Bäume, gräbt Brunnen. Neue Krankenhäuser sind geplant, Schulen, Gerichte, Industriezonen, die neue Stadt Rawabi, in der einmal 60 000 Palästinenser leben sollen, und sogar ein neuer Flughafen bei Jericho.
Doch der Technokrat Fajad erreicht bei allem Erfolg nicht die Herzen seiner Landsleute. Wären jetzt Wahlen, würde „Der Dritte Weg“ wieder nur bei kläglichen drei bis fünf Prozent der Wählerstimmen landen, schätzt der prominente Meinungsforscher Khalid Shikaki. Fatah und Hamas würden sich den Kuchen aufteilen.
Das Volk, sagt Shikaki, sehe Fajad zwar überwiegend positiv. Aber eher als einen Manager, der Dienste liefert und Institutionen baut, nicht als einen Führer der nationalen Sache. Dafür fehlt ihm die Legitimation des bewaffneten Widerstandes von Fatah oder der religiösen Instanz von Hamas. Narben gelten im besetzten Palästina noch immer mehr als alle Doktortitel. „Der Westen“, sagt Shikaki, „überschätzt einfach Fajads Fähigkeit, die Herzen der Palästinenser zu gewinnen.“ Anerkennung? Ja. Respekt auch. Aber es ist keine feurige Liebe.
Die aber braucht es vielleicht für einen Palästinenser, um hinzunehmen, dass Israel im Westjordanland machen kann, was es will. Dadurch stehe die Autonomiebehörde „als Kollaborateur“ da, wie Khalid Shikaki sagt. „Und wenn man als Kollaborateur gesehen wird, kann man keinen Staat bauen.“ Es ist ein schmaler Grat, den Fajad beschreitet: Zu viel Nähe zu dem Feind kann ihm das Genick brechen, aber er braucht Israel, um sein Programm voranzutreiben.
„Ich mache einfach nur meinen Job“, sagt Fajad, während er immer tiefer in der braunen Ledercouch versinkt. „Es interessiert mich nicht, wie ich später mal gesehen werde. Meine Verantwortung war es, das Land vom Abgrund wegzuführen. Hier war totales Chaos, es herrschte Gesetzlosigkeit.“ Dazu war eine Reform der Sicherheitskräfte nötig, oder wie Fajad es sagt: die Abschaffung des „Sicherheitspluralismus“. Er hat die Waffen von der Straße geholt, nur die Kräfte der Autonomiebehörde, eine 25 000 Mann starke Truppe, trainiert von den Amerikanern, tragen welche. Aber eben nur im Westjordanland. Der Gaza-Streifen kann kein Teil eines zukünftigen Staates werden, solange sich Fatah und Hamas weiter bekämpfen. Gerade wieder sind Annäherungsgespräche erfolglos verlaufen, und Fajad gibt offen zu: „Wenn wir es nicht schaffen, am gleichen Strang zu ziehen, dann werden wir unseren Staat nicht bekommen.“
Doch wo sollen sich beide Seiten treffen, die Hamas mit ihrem Märtyrerkult und Fajad, der kalkulierende Machttechniker? Was ist die Mitte von bewaffnetem Widerstand und gewaltlosem Staatenbau? Ist Fajad zu optimistisch? Oder hoffnungslos naiv?
Fajad zündet sich seine nächste Zigarette an und redet über die Texas Longhorns, die Footballmannschaft seiner amerikanischen Uni, darüber, dass er mittags nichts isst und dass sein ältester Sohn jetzt auch in den USA studiert. Wenn er etwas betonen will, schiebt er oft in amerikanischem Slang hinterher: See what I mean? Verstehen Sie, was ich meine?
Dann kommt er zu der philosophischen Untermauerung seines Regierungshandelns und erneut fällt der Satz von „der Macht des gewaltlosen Widerstands“. Und das in einem Land, das Gewalt gegen Israel immer noch für ein respektables nationales Unterfangen hält. So sagte etwa der Hamas-Führer im Exil Khaled Meshal jüngst bei einer Konferenz in Syrien, dass nur der bewaffnete Kampf die palästinensische Sache am Leben erhalte. Nichts könnte dem Bankenmensch Fajad ferner liegen, er hat genug von dem Pathos der Aufstände. „Unsere Erfahrung hat ausreichend gezeigt, dass diese Strategie nicht funktioniert.“ Auf seinem Schreibtisch liegt ein Buch des amerikanischen Bürgerrechtsaktivisten Martin Luther King.
„Gewalt befleckt deinen Kampf für Freiheit“, sagt Fajad, ein Satz, der auch von King stammen könnte. Für einen Mann, der ohne das Schmeicheln eines breiten Politikerlächelns auskommt, wird er bei diesem Thema regelrecht leidenschaftlich. Er wiederholt jenen Satz immer wieder, zwölf Mal in einem 45-minütigen Gespräch. „Ich sehe das als palästinensisches Interesse. Man bekommt viel mehr Sympathie und Unterstützung.“ See what I mean?
Zurück nach Bethlehem, zu Fajads field trip, wie er seine Ausflüge nennt. Der Premier hat die Stände des Olivenfestes verlassen und geht hinüber zum Rathaus, vorbei an einem Kiosk mit einer französischen Zigarettenwerbung, die vielsagend „Liberté Toujours“ verspricht. Ein Tross von Leuten folgt ihm. Vor dem Rathaus schnippt er seine Zigarette weg, geht hoch in den zweiten Stock, wieder mal vorbei an einem Bild von Arafat. In einem länglichen Raum nimmt das Gefolge Platz, Fajad sitzt am Kopfende, natürlich wieder rauchend, auf kleinen Tischen warten Baklava und Kaffee. Es wird gelacht und dabei ignoriert, dass es eine road map für den Frieden nicht mehr gibt.
Fajad könnte der Einzige mit einem Plan sein. Darauf spekuliert er. Auch wenn er sagt, dass er sich zu Beginn keine Chance gegeben habe, die Brände zu löschen, die durch den Bruderzwist von Fatah und Hamas entfacht wurden. Und immer noch abhängig von Israel und uneinig mit der Hamas zu sein, lässt ihn nur die Illusion eines Staates erzeugen, dem aber keine Autonomie verschaffen.
Dann beginnt ein Mann in dunkelgrünem Anzug und mit schwarzem Schnauzer zu reden. Und er redet und redet. Seine Hand zittert, und schließlich röten sich seine Augen. Fajad hört in aller Ruhe zu. Der Mann ist so bewegt, das man ein schweres Schicksal vermutet. Aber es ist das Finanzamt, das ihn bewegt, die neuen Besteuerungen in seiner Heimat. Es ist die neue Ordnung Fajads, die Freiheit und Wohlstand verspricht – diesem Mann tut sie weh.
(erschienen im Tagesspiegel)