Im vorigen blog-Post habe ich etwas über den Grund geschrieben. Dieser Grund hat drei Aspekte, die untrennbar sind, aber aus Gründen der besseren Darstellung in Essenz, Natur und Energie gegliedert werden. Die Kenntnis des Grundes ist notwendig, um eben anschließend auch über den Pfad zu sprechen.
Geist ist GrundlageIm Dzogchen bezieht sich der Pfad auf das Erkennen unserer angeborenen, wahren Natur. Wie im Samantabhadra Wunschgebet vermerkt: „ Alle Erscheinungen, Dasein, Samsara und Nirvana haben einen einzigen Grund, doch zweierlei Pfade und zweierlei Frucht. Dies offenbart sich auf wundersame Weise als Gewahrsein oder Nichtgewahrsein." Und diese grundlegende, angeborene Natur ist Samantabhadra - der All-Gute oder auch Kuntuzangpo (tib.) genannt - selbst, in der uns bei der Einführung in die Natur des Geistes bekanntgemacht wird. Jedoch im Unterschied zu Samantabhadra ist es für uns ein vorübergehendes Erlebnis, während Kuntuzangpo eben beständig darin weilt. Wir alle haben diesen Zustand schon öfters auch zufällig erfahren, beispielsweise beim Niesen oder beim Orgasmus in der sexuellen Vereinigung. Und wenn jemand Meditation praktiziert und die verschiedenen Visualisationen der Stufe des Mahayoga ausführt, dann auch eben beim Auflösen der Visualisation am Ende der Meditation.
Dudjom Lingpa meint dazu: „...vergewissere dich ohne den Schatten eines Zweifels, dass das Wichtigste unter Körper, Rede und Geist der Geist ist. Kurzum werden Anfänger mit Hilfe des Überprüfens und Vertrautwerdens mit sich selbst in der Meditation auf den Pfad geführt. [...] Ferner untersuche, welche Möglichkeiten es für diese Wesenheit - Geist genannt - gibt, welche diese verschiedenen Dinge heraufbeschwört. Was ist seine Gestalt und Farbe, seine Form und seine Herkunft, sein Anfang und Ende? Ist er eine wirkliche Wesenheit oder bloßes Nichtsein? Sobald du zu einer unumkehrbaren Einsicht gelangt bist, dass der Geist durch nichts was auch immer festgestellt werden kann, betrittst du den Pfad."
Aber wir haben aufgrund unserer Gewohnheiten nicht die Fähigkeit, länger darin zu verweilen. Indem wir aber unsere Praxis verbessern, wird es uns schließlich einmal sogar gelingen, auch für 24 Stunden darin zu verweilen. Aber Vorsicht! Das ist keine kognitive Angelegenheit, bei der man sich selbst zum Dzogchen-Yogi erklärt und den individuellen Launen und Eigenheiten ihren Lauf lässt.
Der wesentliche Punkt dabei ist, dass man einfach nicht zerstreut und abgelenkt ist. Man versucht einfach präsent zu sein. Manche Menschen glauben ja, dass sie nichts anderes machen können, wenn sie präsent sind und verengen so ihre Aufmerksamkeit auf eine einzige Sache. Noch dazu glauben sie häufig, dass Präsenz auch mit einem bestimmten äußerst langsamen Bewegungstempo zusammenhängen. Allerdings sind das äußerst künstliche Verhaltensweisen, die mit dem ursprünglichen natürlichen Zustand nichts zu tun haben. Dudjom Lingpa meint in seinem Werk „Ein Idiot der sich mit Federn und Schlamm kleidet"[1] dazu: „ Wenn du in dieser Hinsicht deine Gedanken durch einspitziges Ausrichten deines Geistes auf Dinge wie Zweige und Kiesel krampfhaft blockierst, dann wird zu diesem Zeitpunkt eine große Anzahl an Gedanken auftauchen, als ob du einen Bewässerungskanal blockiert hättest, der mit Wasser gefüllt ist. Dadurch werden Körper, Rede und Geist wirklich elend werden."
Und weiter empfiehlt er: „ Stattdessen entspanne dich mit einem Gefühl der Gelassenheit und beobachte deine Gedanken aus der Ferne. Indem du das machst, wird alles, das auftaucht, mit völliger Lebendigkeit gesehen. Das, was sieht, wird als Achtsamkeit oder Gewahrsein erkannt. Das, was gesehen wird, wird als Bewegung erkannt und Verweilen in diesem Zustand wird als Stille erkannt. Du solltest es auf diese Weise erkennen und dich darauf ausrichten."
Wir können also alles ausführen, während wir präsent sind. Wenn wir uns des natürlichen Zustandes gewahr sind, können wir eigentlich die Dinge sogar entspannter angehen und kommen zu einem besseren Ergebnis.
Nachdem wir also durch einen Lehrer in die Natur des Geistes eingeführt worden sind, gilt es nun, damit mehr und mehr vertraut zu werden. Dieses Erlangen von Vertrautheit geschieht eben durch Praxis. Und Praxis sich im Dzogchen unterschiedlich gestalten, da es für den natürlichen Grundzustand egal ist, in welcher Form sich das zeigt.
Wie Dudjom Lingpa oben schon angemerkt hat, sollten wir uns einfach entspannen. Und gerade das Entspannen ist so wichtig, denn Spannung geschieht ja aufgrund des Festhaltens an bestimmten Phantasien, die von unseren zugrundeliegenden emotionalen Problemen genährt werden. Und indem man die auftauchenden Gedanken aus einem Gefühl der Gelassenheit heraus beobachtet, kann man auch ihre leere Natur erkennen. Wie's so schön heißt: „Man muss nicht alles glauben, was man denkt. (Und man muss auch nicht alles denken, was man glaubt.)"
Manche verbinden ja beim Wort Praxis sofort des Rezitieren von Mantras, das Herunterbeten von Liturgien usw. und das erscheint für sie so religiös zu sein und daher lehnen sie es ab. Daher wenden sie sich dann Dzogchen zu, weil sie der Meinung sind, in der Praxis der Großen Vollkommenheit sei nichts zu tun und man wäre frei davon. Naja, so ist das nun auch wieder nicht ganz. Natürlich gibt es nichts Bestimmtes zu tun, in dem Sinne, dass keine spezielle Praxisform vorgeschrieben ist. Der Natur des Geistes ist es schließlich einerlei, in welcher Gestalt sie erscheint.
Man ist dahingehend schon frei, aber der wesentliche Rahmen dabei sind Achtsamkeit, Gewahrsein und Unabgelenktheit - eben wache, klare Präsenz. So ganz ohne Rahmen funktioniert das eben nicht, schon gar nicht zu Beginn und diese Zeit, bis man wirklich endgültige Vertrautheit mit der Natur des Geistes erlangt hat, ist lange. Ganz ohne Rahmen passiert es leicht, dass man abgelenkt ist und im Laufe der Zeit wuchern wieder dieselben Launen und Neurosen wie zuvor. Somit haben wir wieder dieselben Probleme. Manche Leute fühlen sich ja von Dzogchen angezogen, weil es so modern für sie erscheint, ganz formfrei und ungezwungen. Und sie lehnen die verschiedenen anderen spirituellen Praktiken ab. Aber das ist auch nur eine Allüre und somit von gerade der Künstlichkeit durchdrungen, die sie vermeiden versuchen. Es ist äußerst wichtig, so ein Verhalten zu erkennen! Gerade der Hang zu Beliebigkeit stellt eine Abwehr des gegenwärtigen Erlebens dar.
Die verschiedenen Arten mit der Natur des Geistes mehr und mehr vertraut zu werden, findet man in ausführlichen Pujas genauso wie auch in simplen Handlungen. Welche Art man jedoch nutzt, hängt von den eigenen Fähigkeiten ab. Man kann sogar sagen, dass für die Praxis der Großen Vollkommenheit nicht einmal speziell Praktiken aus dem buddhistischen Kontext verwendet werden müssen.
Wir können uns im Grunde aller möglichen Praktiken aus den verschiedenen spirituellen Traditionen bedienen und diese integrieren. Jedoch bedeutet das nicht, dass man wahllos mal die eine und dann die andere Praxis macht, oder gar ein bisschen Achtsamkeitsmeditation mit tibetischen Pujas und etwas Katholizismus vermischt und das ganze mit etwas Derwisch-Tanz und schamanischem Trommel garniert. Denn das führt wieder dazu, dass man sich wunderbar vom natürlichen Zustand ablenken kann und nicht mehr darin ruht. Verwirrung ist so garantiert.
Integration bedeutet, dass man zuerst in den natürlichen Zustand eintritt und darin verweilt. Aus diesem heraus kann bei Bedarf, das eine oder andere eben gewählt werden. Alle diese anderen Praktiken dienen dazu, auftauchende Hindernisse wieder in den ursprünglichen Raum zu befreien und die ursprüngliche Sicht wieder herzustellen. Auf diese Weise können uns viele Praktiken von Nutzen sein, ohne dass sie zu einem Korsett werden.
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[1] Tib.; rmongs pa'i blun chos 'dag gos byang spu can zhes; TBRC, Dudjom Terchö (gter chos / bdud 'joms gling pa), Band 16 (ma), Seite 459 -493