Der Papst und die Kondome

 Heute erscheint ein bemerkenswertes Buch, wenn man den vorab bekannt gewordenen Passagen glauben soll. Das Buch heißt: “Licht der Welt – Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit” und wurde vom Publizisten Peter Seewald geschrieben. Es handelt sich im Wesentlichen um die Niederschrift eines Interviews, das Seewald mit Benedikt XVI. im Juli geführt hat. Offenbar hat der Papst seine Überlegungen selbst im innersten Kirchenkreis bis jetzt geheim gehalten, denn der Vatikan war überrascht, als nun erste brisante Aussagen des Kirchenoberhauptes an die Öffentlichkeit drangen. Und nicht nur der Vatikan.

 

photoPhoto: Tomizak

In begründeten Einzelfällen, zum Beispiel als männlicher Prostituierter, könne die Benutzung eines Kondoms zur Ansteckungsverhinderung nützlich sein, und zwar als erster Schritt zu einer anders gelebten, menschlicheren Sexualität, erklärte der Papst. Diese Äußerung hallt durch die Welt wie ein Paukenschlag, Freund und Feind sind angenehm überrascht, und der Berliner Kurier titelt frech: “Papst gibt Gummi”.

Aber was ist dran an der Revolution im Vatikan? Sehen wir uns die von den Medien zum Beginn einer neuen Zeit hochstilisierte Aussage doch nüchtern noch einmal an, nicht durch den Zerrspiegel einer immer dreister werdenden Sensationsberichterstattung. Der Papst hat zugegeben, dass es männliche Prostituierte gibt. Das ist allerdings ein bemerkenswertes Eingeständnis. Vielleicht kehrt der ehemalige Kardinal Joseph Ratzinger damit zu seinen Wurzeln zurück. In den fünfziger und frühen sechziger Jahren galt er als fortschrittlich und wandte sich während des 2. vatikanischen Konzils gegen die Erstarrung in der kirchlichen Führungsschicht, und damit auch gegen eine gewisse Weltfremdheit. Den Ruf, ein verstockter konservativer Erzmoralist zu sein, erhielt er erst später. Z. B. bezeichnete ihn Henning Venske in einem mitte der achtziger Jahre erschienenen Programm der Münchner Lach- und Schießgesellschaft einmal als “dem Papst sein Stoiber”. Nun scheint sich Ratzinger als Papst jedoch an seine frühen Tage zu erinnern. Männliche Prostituierte sollen in Zukunft im Einzelfall ein Kondom benutzen dürfen, um die Ansteckungsgefahr mit AIDS zu minimieren, und natürlich nur als ersten Schritt hin zu einer anders gelebten, menschlicheren Sexualität, sprich der ehelichen, heterosexuellen Treue.

So betrachtet bleibt außer dem Zugeständnis, dass es männliche Prostituierte gibt, nicht viel übrig von der vatikanischen Revolution. Immer noch will man diese verirrten Personen heimholen in die heterosexuelle, eheliche Treue, immer noch bleibt in heterosexuellen Beziehungen das Kondom verboten, immer noch darf man also gegen die Überbevölkerung nichts tun außer Abstinenz zu üben. So meint denn auch Heiner Geißler, der derzeit eigentlich mit den Schlichtungsverhandlungen zu Stuttgart 21 beschäftigt ist, dass die Äußerungen des Papstes keinen Hinweis auf eine veränderte Sexualmoral der katholischen Kirche liefern. Ich glaube, damit hat er recht.

In anderen Punkten sind Benedikts Aussagen ebenfalls bemerkenswert. So spricht sich der Papst gegen ein allgemeines Burkaverbot aus. Außerdem äußert er sich zu einem möglichen Papstrücktritt wegen physischer, psychologischer oder spiritueller Amtsunfähigkeit. Laut Beobachtern deutet dies darauf hin, dass er Anweisungen für den Fall seiner Krankheit erteilt hat. Und schließlich rechtfertigt er zwar die Rehabilitierung der ultrakonservativen Piusbrüder, hätte aber den umstrittenen Bischof Williamson davon ausgenommen, wenn man im Vatikan nur gründlich im Internet recherchiert hätte. Williamson ist ein bekannter Rechtsradikaler und Holocaust-Leugner. Immerhin: Der in Glaubensfragen unfehlbare Papst gibt zu, einen Fehler gemacht zu haben und erkennt die Bedeutung des Internets an.

Zu einer echten Revision der kirchlichen Sexualmoral fehlt aber noch eine Menge. Zunächst wäre es notwendig, die Diskriminierung von Frauen, Schwulen und Lesben abzuschaffen. Sodann müssten Verhütungsmittel auch im heterosexuellen Verkehr zugelassen werden. Diese Vorschriften lassen sich nämlich nicht eindeutig durch Bibelzitate belegen. Außerdem gilt die Fähigkeit, die Bibel als moralischen Leitfaden, aber nicht als wörtlich gemeinte Handlungsanweisung zu verstehen, vielen als ein großer Vorteil des Christentums gegenüber dem dogmatischen Islam. Der Papst könnte Vorbild sein und die katholische Kirche in die Gegenwart führen. Er müsste dazu nur die “Zeichen der Zeit” erkennen und sich gegen “Erstarrung” in der römischen Amtskirche wenden.

Dieser Kommentar wurde am 24.11.2010 auf http://www.ohrfunk.de veröffentlicht.


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