Weltweit bildet das Handbuch der amerikanischen Psychiatervereinigung, kurz DSM genannt, die Grundlage zur Diagnose psychischer Störungen. Seine fünfte Version erscheint 2013 – und sorgt jetzt schon für Zündstoff. Kritiker bemängeln, die neue »Bibel der Seelenleiden« werde die Patientenzahl drastisch anwachsen lassen.
Voraussichtlich im Mai 2013 erscheint die neue Auflage des Katalogs der psychischen Störungen, den die US-Psychiatervereinigung APA herausgibt. Die nunmehr fünfte Auflage des "Diagnostischen und Statistischen Manuals", kurz DSM-5, setzt weltweite Standards für die Behandlung und Erforschung seelischer Leiden. Zu den wichtigsten Neuerungen zählt, dass zusätzlich zu den festen Krankheitskategorien wie Depression, Phobie oder bipolare Störung auch die Stärke des Leidens in der ärztlichen Praxis beurteilt werden soll, berichtet das Wissenschaftsmagazin Gehirn&Geist in seiner neuen Ausgabe (Heft 6/2012). So will man zum Beispiel mehrfach betroffenen Patienten, die in unterschiedlichen Ausmaß etwa an depressiven sowie an Angstsymptomen leiden, besser gerecht werden.
Während einige Syndrome wie das Aspergersyndrom – eine Sonderform des Autismus – aus der Liste der Störungen gestrichen oder mit anderen zusammengelegt werden sollen, dürften auch ein Reihe neue Krankheiten hinzukommen – etwa das Binge Eating (krankhafte "Fressanfälle") oder die hypersexuelle Störung, die sich unter anderem durch die exzessive Beschäftigung mit Sexgedanken auszeichnet. Kritiker befürchten eine Flut neuer Patienten, da die Kriterien für zahlreiche Diagnosen weiter gefasst werden sollen, um die bislang große Zahl der "nicht näher bezeichneten" Störungen zu reduzieren.
Ein weiterer umstrittener Punkt: Um einer möglicherweise drohenden, schweren Schizophrenie frühzeitig zu begegnen, sollen mildere Ausprägungen als psychotisches "Risikosyndrome" definiert werden. Dies könne als Pathologisierung von Menschen, die sonderbaren Ideen anhängen missbraucht werden, so Skeptiker wie der US-Psychiater Allen Frances, Leiter der Vorgängerversion DSM-IV.
Nach aktuellen Erhebungen erkrankt etwa ein Drittel der Europäer im Lauf eines Jahres an einer psychischen Störung – allen voran Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen. "Unser Gehirn ist das komplexeste Organ des Körpers", erklärt der Psychiater Hans-Ulrich Wittchen von der TU Dresden im Interview mit Gehirn&Geist. "Es wäre ein Wunder, wenn es gesünder wäre als unsere relativ einfache Blutpumpe, das Herz, oder der Magen-Darm-Trakt." Eine Flut von Betroffenen befürchtet Wittchen allerdings nicht. Dafür werde es vermutlich zu lange dauern, bis die Neuerung in den Arzt- und Therapeutenpraxen flächendeckend umgesetzt werden.
Aus: Gehirn&Geist, Juni 2012